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Dienstag, 2. Mai 2023

»Das Maskenspiel der Genien« von Fritz von Herzmanovsky-Orlando

Das Maskenspiel der Genien
Das Maskenspiel der Genien

Die habsburgische Vergangenheit beherrscht weiterhin das literarische Bewusstsein Österreichs. Der 1929 abgeschlossene Roman »Das Maskenspiel der Genien« von Fritz Herzmanovsky-Orlando ist ein Werk der phantastischen Literatur, das in der neuerwachten Gotik der Levante spielt. Es ist sein Hauptwerk und zugleich ein Hauptwerk der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts, ein von Einfällen und Witz überquellender, wunderschöner Alptraum. Ein Werk in der Tradition des österreichischen Humors und unter dem Einfluß von Alfred Kubins fin de siecle-Roman »Die andere Seite«.

»Das Maskenspiel der Genien« thematisiert die Spiegelung von Traum und Realität und ist eine Mischung aus antikem Mythos und Commedia dell` arte zum Zwecke der Vervballhornung der Habsburger Monarchie und ihres willfährigen und selbstgefälligen Beamtentums. Es ist die Wiederauferstehung des Mittelalters mit seinen Gauklerfiguren unter der Maske der Commedia dell` arte. Der Roman ist ein wahres Königtum des phantasievollen Einfallsreichtums und frechen Gauklertums. Die K.u.K.-Groteske spielt in der Tarockei. Der zu Lebzeiten unveröffentlichte und zunächst deutlich gekürzt publizierte Großroman »Das Maskenspiel der Genien« wurde 2011 in einer für breite Leserschichten angelegten unkommentierten "Volksausgabe" veröffentlicht.


Den ersten Teil der Reise führt den Abenteurer und Forscher Cyriak von Pizzicolli, eine literarische Verfremdung des Vorbildes Cyriacus von Ancona, in die Tarockei. Den zweiten Teil der Reise führt Pizzicolli nach Arkadien und in das antike Griechenland. Ins Bizarre gleitet die Reise nach Griechenland zur Zeit der Gotik ab. Hier spielt das Maskenspiel in der neuerwachten Gotik der Levante. Durch ungeheure Tragik gerät er in ein antikes Göttermysterium.

Arkadien ist ein ägäisches Wunderland voller mondäner Feste, bizarrer Einsiedler, berückender Landschaft und undeutlicher politischer Zugehörigkeit – die Türken werden nicht wirklich geleugnet, spielen aber nur eine untergeordnete dekorative Rolle – ist die eigentliche politisch-surrealistische Erfindung Herzmanovskys vorgelagert: die Tarockei, ein vom Fürsten Metternich geschaffener Pufferstaat im Süden der Donaumonarchie, der den Namen von seiner monarchischen Konstitution her trägt: Er wird nach den Regeln des Tarock-Spieles regiert.

Die Tarockei ist keine Insel der Seligen, obwohl von der Außenwelt der Nachbarstaaten gut abgeschirmt. Sie enthält natürlich Elemente einer Satire auf das alte Österreich mit seiner im Rückblick von heute bewunderten Bürokratie, die vor allem durch die von ihr entwickelte Sprache zu ihrer Zeit aber auch in manchem administrativen Exzess im Gedächtnis geblieben ist.


Die vier Könige des Landes werden ausschließlich nach ihrer physiologischen Ähnlichkeit mit den Spielkarten ausgesucht, und so gelangen die erstaunlichsten Personnagen auf den Thron. Hinter den Tetrarchen aber steht der eigentliche Machthaber, ein unheimlicher, nie erblickter Rat der Drei, bestehend aus den Tarockkarten Sküs, Mond und Pagat.

Durch eine Kastentür gelangt der verwaiste, ledige Cyriak von Pizzicolli, der sein Leben lang nie weit von Graz weggekommen ist, auf Traumpfaden in die Tarockei, „das einzige Nachbarland der Welt“, ein magisch bevölkertes Phantasiegebilde eines österreichisch-byzantinischen Utopia, dessen Verfassung auf den Regeln des Tarockspiels gründet. Was ihm dort widerfährt, nachdem er der atemberaubend schönen Cyparis - einer Verkörperung und Wiedergängerin der Helena - ansichtig wird, und warum er am Ende ein Hirschgeweih auf dem Kopf trägt, kann Ihnen nur dieses Buch erzählen und niemand anderer als Fritz von Herzmanovsky-Orlando. „

Pizzicolli landet am Ende auf der Insel Kreta. Dort erfolgt auch die Auflösung des geheimnisvollen Mysterienspieles /. des Mysteriums am Ende. Geheimes Wissen um eine versunkene Welt. Ein Mann in einer Mönchskutte offenbart ihm das geheime Wissen um eine versunkene Welt und das Wissen, wie sich die Dinge für ihn zusammenfügen. In der Offenbarung des Mönches in der weißen Kutte Fra Hugo ging Pizzicolli nun ein Licht auf über den geheimen Sinn der Mysterienspiele.

Die ganze religiöse Geschichte hat einen Angelpunkt: das Erscheinen des Erlöses, des Jesus Christos. Alle antiken Mysterien sind nutzlos. Hier in diesem weltvergessenen Stück Europas leben, sehr verborgen, die seltsamsten Bewahrer uralten mystischen Wissens der Tempeleisen, der Träger heiligster Traditionen, von Dingen, die am europäischen Kontinent längst abgeschafft und vorläufig noch vergessen sind.


Nach der Offenbarung gehen dem eingeweihten Pizzicolli nun zahlreiche Spukbilder durch den Kopf. Zum Schluss dann der Auftritt der Harlekine, welche die Maske lüpfen und das Rätsel der Mysterien auflösen. Bald erfuhr Pizzicolli, daß die Herren aus der ganzen Welt an dieser Stelle zusammengekommen seien. S. 487

"Man plane eine Durchwebung der antiken Mysterien mit den Figuren der Commedia dell`Arte ... wie wenn es geworden wäre, wenn Venedig wirklich den ganzen Orient für immer beherrscht hätte."

Am Ende trägt er selbst ein Hirschgeweih auf dem Kopf.


Fritz von Herzmanovsky-Orlando hat 1929 seinen weithin berühmten, jedoch vollkommen unbekannten Roman »Das Maskenspiel der Genien« abgeschlossen. Der Roman ist ein wahres Königtum des phantasievollen Einfallsreichtums. Die K.u.K.-Groteske spielt in der Tarockei. Der zu Lebzeiten unveröffentlichte und zunächst deutlich gekürzt publizierte Großroman »Das Maskenspiel der Genien« wurde 2011 in einer unkommentierten "Volksausgabe" veröffentlicht.

Der Abkömmling der Donaumonarchie hat der Monrachie mit seinem Werk ein groteskes Denkmal gesetzt. Ein traumhaftes Werk nicht nur für phantasiebegabte Leser mit Sinn für Ironie und Komik. Sehr empfehlenswerter Lesestoff für alle, die wirklich gute phantastische Literatur und nicht nur "Fantasy" lesen wollen.



Blog-Artikel:

Fritz von Herzmanovsky-Orlando 140. Geburtstag

»Der Mann ohne Eigenschaften« von Robert Musil


Weblink:

Cyriacus von Ancona – Wikipedia - https://de.wikipedia.org/wiki


Literatur:

Das Maskenspiel der Genien
Das Maskenspiel der Genien
von Fritz von Herzmanovsky-Orlando

Phantastik auf Abwegen. Fritz von Herzmanovsky-Orlando im Kontext
Phantastik auf Abwegen. Fritz von Herzmanovsky-Orlando im Kontext
von Bernhard Fetz und Klaralinda Ma



Tarockspiel:

Tarock - Wikipedia - de.wikipedia.org

Samstag, 28. März 2020

»Die Stadt der Blinden« von José Saramago

José Saramago

José Saramagos gesellschaftskritischer Roman »Die Stadt der Blinden« gilt als sein literarisch überzeugendstes Werk, denn der Roman ist eine gelungene Parabel über die Blindheit der Menschen. »Die Stadt der Blinden« ist José Saramagos Antwort auf den düsteren Roman »Die Pest« von Albert Camus. Beide Werke schildern eine gesellschaftliche Dystopie.

Der Roman beginnt damit, daß ein Mann mit seinem Auto an einer Ampel steht. Von einer Sekunde auf die nächste, ohne erklärbaren Grund, erblindet er. Wie ihm ergeht es immer mehr Menschen in seiner Heimatstadt. Wie eine Seuche greift die Blindheit um sich. Die Regierenden wissen sich nicht anders zu helfen, als die Betroffenen in einer verlassenen Irrenanstalt einzuquartieren - unter der Bewachung von Soldaten, die auf jeden schießen, der fliehen will.

Die Situation spitzt sich allmählich zu. Je mehr Blinde dort zusammengepfercht werden, desto schlimmer, desto unmenschlicher wird die Situation. Die Betroffeenen sehen sich stufenweisen Massnahmen gegenübergestellt - angefangen von der behördlichen Erfassung bis hin zur Internierung. Inmitten dieses grausamen Chaos befindet sich ein Augenarzt mit seiner Frau - die als Einzige noch sehen kann.

José Saramago, portugiesischer Literaturnobelpreisträger, beschreibt die Entwicklungen im Verhalten der Menschen nach dem die rätselhafte Krankheit ausgebrochen ist. Mitten in der Stadt erblindet plötzlich ein Autofahrer an einer Ampel. Kurz darauf Passanten, seine Frau, der Arzt - und plötzlich steht nach mehreren Übertragungsfällen fest: eine Epidemie greift um sich. Die Blindheit äußerst sich durch das Entstehen eines weißen Nebels vor den Augen und greift schnell um sich.

Zunächst wird der Chefarzt für Augenheilkunde über die seltsamen Vorfälle informiert, dann das Ministerium für Gesundheit. Der Staat reagiert zunächst brutal, er kaserniert die Kranken, es kommt sogar zu Erschießungen. Schließlich bricht der Staat selbst zusammen, das Ende versinkt in völliger Anarchie.

Da diese Krankheit höchst ansteckend ist, sperrt die Regierung die bereits Erblindeten und alle, die mit ihnen in Kontakt gekommen sind in eine stillgelegte Irrenanstalt. Nach und nach kommen immer mehr Blinde hinzu und während sich die "Weiße Seuche" draußen weiter verbreitet, beginnt in der Anstalt ein Kampf um Leben und Tod. Doch es besteht auch Hoffnung, denn es gibt eine Sehende unter ihnen, die die Krankheit nur vorgetäuscht hat, um bei ihrem Mann zu bleiben.




Die Stadt ist mit Blindheit geschlagen und gleitet ab in eine Welle voller Gewalt. Ein übernervöses Militär arbeitet nur nach Befehl, lässt auch sinnvolle Ausnahmen nicht zu. Unter den Blinden machen sich Hass und Übervorteilung breit - es gilt das Recht des Stärkeren, was unter Anderem in der Erpressung 'Nahrung gegen Vergewaltigung' gipfelt. Einer der Schlüsselsätze ist die Aussage: "Wir waren schon blind in dem Augenblick, in dem wir erblindet sind". Und auch: "Kämpfen war immer mehr oder weniger eine Form der Blindheit".

All diesem Horror hat Saramago Passagen von unübertroffener Schönheit entgegengesetzt.
Einen Kontrast dazu stellt eine Frau dar, die ihre Sehkraft bewahrt hat, darüber vor Angst jedoch schweigt. Sie ist eine Schlüsselfigur in dem Roman. Als Einzige wahrt sie die Würde und schafft es, für eine kleine Gruppe Blinder die Menschlichkeit zu bewahren.

Saramago beschreibt in seiner Parabel über die menschliche Blindheit eine Welt, in der die Menschen blind geworden sind. Er macht in seinem Roman die Blindheit zu einer ansteckenden Krankheit, gebraucht aber den Begriff Blindheit im übergeordneten Sinn .Der Leser muss jedoch erstaunt feststellen, dass viele aber schon blind waren , obwohl sie alles sahen.

»Die Stadt der Blinden« von José Saramago ist im September 2015 auch als Taschenbuch im btb-Verlag in einer Neuauflage erschienen.

Literatur:

Die Stadt der Blinden
Die Stadt der Blinden
von José Saramago

Samstag, 6. Juli 2019

»Menu surprise: Der elfte Fall für Bruno, Chef de police« von Martin Walker

Martin Walker

Martin Walker, geboren 1947 in Schottland, ist Schriftsteller, Historiker und politischer Journalist. Er lebt in Washington und im Périgord und war 25 Jahre lang bei der britischen Tageszeitung »The Guardian« tätig.
Mit »Menu surprise« hat Martin Walker den elften Fall für Bruno, den örtlichen Chef de police, vorgelegt. Der Titel »Menu surprise ist eine Anspielgung an die vielfältige Küche und das kriminalistische Menue des Autors.

Im Jahr 1999 ließ Martin Walker sich mit seiner Familie in einem kleinen Ort im Périgord nieder. Dort spielen seine erfolgreichen Kriminalfälle rund um den Dorfpolizisten Bruno.

Bruno steht dieses Mal vor einer ungewohnten Herausforderung: Er soll in Pamelas Kochschule Feriengästen lokale Geheimrezepte beibringen. Die Messer sind gewetzt, die frischen Zutaten bereit, doch die prominenteste Kursteilnehmerin fehlt: die junge Frau eines britischen Geheimdienstoffiziers, die sich auf Empfehlung ihrer Familie im Périgord erholen wollte. Bruno spürt sie auf - in einem vermeintlichen Liebesnest, das jedoch bald zum Schauplatz eines Doppelmords wird.

Bruno erfährt, dass eine der Kurteilnehmerinnen von Pamelas Kochkurs vermisst wird. Der Dorfpolizist möchte bitte nachsehen, was da los ist. Diese harmlose Nachfrage weitet sich auf ernste Ermittlungen im Fall mit zwei Toten, die weite Kreise nach sich ziehen und Kompetenzen des einfachen Dorfpolizisten Bruno deutlich übersteigen.


Bei Martin Walker ist die Rezeptur in seinen Romanen fein verteilt. Im Roman fließt wenig Blut, es geschehen wenige Morde, dafür ein charaktervoller und genußfreudiger Dorfpolizist und dazwischen gibt es schöne Kochrezepte aus der französischen Küche, welche in diesem Roman besonders betont werden.

Seine - fast schon obligate - Hommage an die Kochkunst: Bruno teilt seine Geheimnisse in Sachen Kochen mit den Teilnehmern des Kochkurses und mit den Lesern. Der leidenschaftliche Koch kocht auch für seine Gäste.


"Bruno würde den Teilnehmern beibringen, wie pâté de foie gras zuzubereiten war und wie sich aus einer einzigen Ente fünf verschiedene Gerichte zaubern lassen. Als einer der anderen Kursleiter wollte der Baron zeigen, wie man einen Gänsehals füllt und was sonst noch in ein klassisches cassoulet nach Art des Périgord gehörte."


Isabell ist wieder die Frau seines Lebens bei Bruno, die Geschichte hält sich sehr im Rahmen. Viel Raum nimmt eine Nebengeschichte um die schwangere Rugbyspielerin, die in die Nationalmannschaft aufgenommen werden soll. Die Frage, ob sie ihre Schwangerschaft abbricht, um sportlich weiter zu kommen, beschäftigt Bruno, Fabiola, die Spielerin selbst und paar andere Figuren so ziemlich bis zum Schluss.

Der Geheimdienst ist dieses Mal durch die junge Frau eines britischen Geheimdienstoffiziers in den Fall involiert. Die Presse spielt eine eher negative Rolle, da sie einiges ausplappert, was so manche Figuren in Gefahr bringt.

Der vorliegende Fall des Kommissars erscheint an sich nicht so besonders, aber dadurch, dass die schöne, gemütliche Seite deutlich im Vordergrund steht, kann man das Geheimdienstgeplapper gut wegstecken.

Am Ende darf Bruno im mehr oder minder spektakulären Einsatz seine Beförderung nochmals unter Beweis stellen. Am Ende ist alles geklärt und die Motive sind freigelegt.

Wer gerne Kriminalromane liest, ein Gefühl für Südfrankreich und seine Lebensart entwickelt hat, dazu gerne kocht und nach guten Inspirationen für einfachen, schmackhaften Gerichten sucht, der ist mit den Krimis von Maritn Walker sehr gut bedient. - Voila, une Mene surprise. Bon appetit!

Literatur:

Menu surprise: Der elfte Fall für Bruno, Chef de police
Menu surprise: Der elfte Fall für Bruno, Chef de police
von Martin Walker

Weblink:

»Menu surprise« von Martin Walker - Youtube

Samstag, 13. April 2019

»Verlorener Morgen« von Gabriela Adameşteanu


»Verlorener Morgen« von Gabriela Adameşteanu - in der Übersetzung von Eva Ruth Wemme - ist die rumänische Suche nach der verlorenen Zeit. Die große Kunst des europäischen Erzählens im 20. Jahrhundert. Ein Klassiker, erstmals aus dem Rumänischen ins Deutsche übertragen.

Der Roman gewährt einen tiefen Einblick in die Gesellschaft und das Leben hinter dem Eisernen Vorhang in Rumänien im 19. Jahrhundert.

»Der verlorene Morgen« umfasst bewegte Zeiten. Seine Handlung deckt das gesamte »kurze« 20. Jahrhundert ab. Seine Stimmen tragen durch die Jahrzehnte: Es entsteht eine panoramatische Geschichte eines ganzen Landes, gespiegelt in den Erlebnissen von Menschen aus allen Gesellschaftsschichten.
Die mehrmals gebrochenen Biografien der Protagonisten treffen in diesem Roman aufeinander und dabei ist ein einziger Tag in Vicas Leben die Klammer, die alles zusammenhält. Ein Leben zwischen dem Ersten Weltkrieg, dem Terror in den 1950er Jahren und den tristen 1980er Jahren in Rumänien zieht in diesem Roman vorüber bevor das Buch im Jahr 1980 endet.

»Der verlorene Morgen« ist ein Roman der Frauen und ein Roman des Alterns, in dem das Glück der Vergangenheit von Anfang an unter dem Unstern des persönlichen Scheiterns und der kollektiven Katastrophe des Krieges steht und an keinem Punkt ins Sentimentale oder Nostalgische abgleitet; vor allem aber ein Roman, der vom Leben und seinem Vergehen handelt. Das Kaleidoskop seiner unvergesslichen Figuren, Stimmen und Geschichten erzeugt eine den Leser mitreißende Melancholie.

Von der Gossensprache über die Rhetorik der Staatspropaganda bis zu den Resten einer vergangenen Bildungsbürgerlichkeit, von Bewusstseinsströmen bis zu brillanten Dialogen zieht »Der verlorene Morgen« alle Sprachregister.

Als der Roman »Verlorener Morgen« zur Jahreswende 1983/84 in Rumänien erschien, wurde er schnell ein literarisches Ereignis. Wenn der Roman in dem letzten Drittel mit den Stimmen Vicas und Ivonas die Schicksale der Familienmitglieder und ihres Umfelds durch die politische Geschichte hindurch kaleidoskopisch zu Ende erzählt, erzeugt es einen melancholischen Sog, an den man sich auch nach beendeter Lektüre noch lange erinnert.

Ihr 1983 erschienener Roman »Verlorener Morgen« packt Rumäniens zerfahrene Geschichte im 20. Jahrhundert in einen einzigen Tag – ein grosser erzählerischer Wurf. Schon kompositorisch ist der Roman ein Meisterwerk.

Literatur:

Verlorener Morgen
Verlorener Morgen
von Gabriela Adameşteanu

Freitag, 9. November 2018

Iwan Turgenew 200. Geburtstag

Iwan Turgenew

Der russische Schriftsteller und Erzähler Iwan Turgenew wurde vor 200 Jahren am 9. November 1818 in der Nähe von Orjol geboren. Turgenew gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des russischen Realismus. Turgenjew gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des russischen Realismus und zählt zu den großen europäischen Novellendichtern. Seine Novellistik bedeutet einen Höhepunkt der Gattung in der russischen Literatur. Er war einer der Ersten in der russischen Literatur, welche die alltäglichen Nöte und Ängste der russischen Gesellschaft thematisierten.

Nach dem Studium der Literatur und der Philosophie in Moskau, St. Petersburg und Berlin war er für zwei Jahre im Staatsdienst tätig. Danach lebte er als freier Schriftsteller und verfasste Erzählungen, Lyrik, Dramen, Komödien und Romane.

Turgenjew beherrschte mehrere Literaturgattungen. In frühen Jahren bis 1847 pflegte er vor allem die Lyrik. Ab 1855 trat er dann vermehrt als Autor von Dramen und Komödien hervor, die in ihren äußerlich wenig dramatischen Entwicklungen Züge der Dramen Tschechows vorwegnehmen.

n den Jahren von 1844 bis zu seinem Tod 1883 schrieb Iwan Sergejewitsch Turgenew 33 Novellen und Erzählungen, sechs Romane und dazu noch die 25 Erzählungen, die zu den "Aufzeichnungen eines Jägers zusammengefasst" worden sind.
Zu seinen bekanntesten Werken zählen: "Andrej Kolosow" (1844), "Der Raufbold2 (1846), "Drei Porträts" (1846), "Der Jude" (1847), "Petuschkow" (1847), "Tagebuch eines überflüssigen Menschen" (1850), "Drei Begegnungen" (1852), Mumu (1852), "Die Herberge" (1852) und die "Aufzeichnungen eines Jägers" (1852).

Ab 1855 lebte Iwan Turgenew mit nur kurzen Unterbrechungen im Ausland, besonders in Deutschland und Frankreich, von wo aus er die Unruhen im eigenen Land verarbeitete. Sieben Jahre hatte er seinen festen Wohnsitz in Baden-Baden.
Im Jahr 1883 starb Turgenew in Bougival bei Paris an Rückenmarkkrebs, der fälschlicherweise für Gicht gehalten wurde.

Die letzte Zeit seines Lebens verbrachte er im Bett. Iwan Turgenew starb am 3. September 1883 in Bougival bei Paris.


Weblinks:

200. Geburtstag des Schriftstellers Iwan Turgenjew - www.deutschlandfunk.de
Iwan Turgenew-Biografie - Biografien-Portal www.die-Biografien.de

Iwan Sergejewitsch Turgenjew – Sein literarisches Schaffen, Romane II - Turgenew Romane - ZVABlog blog.zvab.com

Iwan Sergejewitsch Turgenjew – Sein literarisches Schaffen, Erzählungen II - ZVABlog blog.zvab.com

Blog-Artikel:

»Väter und Söhne« von Iwan Turgenew

»Aufzeichnungen eines Jägers« von Iwan Turgenew


Samstag, 31. März 2018

»Patria« von Fernando Aramburu

Patria
Patria

»Patria« von Fernando Aramburu. Der Roman ist am 16. Januar 2018 erschienen. Fernando Aramburu wurde 1959 in San Sebastián im Baskenland geboren. Seit Mitte der achtziger Jahre lebt er in Hannover. Für seine Romane wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 2011 hatte die ETA ihren fünf Jahrzehnte währenden Unabhängigkeitskampf mit fast 900 Todesopfern für beendet erklärt. Fernando Aramburu gibt mit »Patria« den Opfern auf beiden Seiten des blutigen Partisanenkriegs eine Stimme.

Patria» heißt Vaterland, Heimat. Aber was ist Heimat? Die beiden Frauen und ihre Familie, um die es in Fernando Aramburus von der Kritik gefeierten und mit den größten spanischen Literaturpreisen ausgezeichneten Roman geht, sehen ihre Heimat mit verschiedenen Augen. Fernando Aramburu beschreibt in seinem Werk das baskische San Sebastián mit seinen spanischen und baskischen Bewohnern.

Die baskische-nationalistische Untergrundorganisation ETA (Euskadi Ta Askatasuna) kämpfte mehr als fünf Jahrzehnte lang mit Waffengewalt für ein autonomes Baskenland. Bei 4.000 Terror-Akten kamen 864 Menschen zu Tode. Im November 2011 verkündeten die ETA-Führer das Ende des bewaffneten Kampfes und vereinbarten einen Waffenstillstand mit der spanischen Zentralregierung. Ein Jahr später löste sich die Separatistengruppe auf. In 2017 begann die ETA mit der Übergabe ihrer Waffen an die Behörden. Der spanische Schriftsteller Fernando Aramburu, Jahrgang 1959, erzählt in seinem Roman „Patria“ die Geschichte des blutigen ETA-Terrors am Beispiel von zwei Familien.

Und gibt Tätern wie Opfern eine Stimme. Die Familien von Bittori und Miren sind freundschaftlich miteinander verbunden. Als Mirens ältester Sohn Joxe Mari sich der Terrorgruppe anschließt und sich an der Ermordung des Unternehmers Txato, dem Ehemann von Bittori, beteiligt, werden aus den zwei baskischen Familien erbitterte Widersacher. Kummer und Schmerz müssen alle ertragen. Auch die Kinder von Bittori und Miren leiden. Nach dem ETA-Ende konfrontiert Bittori, sie verließ nach der Ermordung ihres Mannes ihr Heimatdorf, die ehemaligen Nachbarn mit ihrer Präsenz. Sie will wissen, was damals geschah.

Und hofft auf einen Dialog mit den Tätern. Oder auf Aussöhnung. Die Trauer bleibt. Aber die alten Fronten brechen auf. Der Roman „Patria“ überwältigt und erschüttert. Fernando Aramburu, er beherrscht sein literarisches Handwerk vortrefflich, hat ein sehr kluges und emotional mitreißendes Buch geschrieben. Die stilistische Brillanz des spanischen Autors ist beeindruckend. Seine packende Saga um zwei in den ETA-Terror verstrickten Familien entwickelt eine ungemeine Sogwirkung. Jede Seite lohnt. Der Roman über den baskischen Terrorismus ist ein Meisterwerk. Die Leser, glücklich. Ein Buch, das bleibt.

Es geht in dem Gesellschaftsroman, der im Baskenland angesiedelt ist, um den ETA-Terror im Baskenland, der in den 70iger Jahren Spanien in Atem hielt. Es wird beschrieben, wie sich aus dem Stolz, ein Baske mit eigener Kultur und Sprache zu sein, allmählich der zerstörerische Wahn ausbildet, mit der Waffe gegen die vermeintlichen Unterdrücker kämpfen zu müssen. Und es wird erzählt, was danach möglich oder unmöglich ist beim Heilen der Wunden und im Prozess der Versöhnung.

In zwei – ursprünglich befreundeten – Familien stoßen scheinbar alle denkbaren Facetten und Widersprüchlichkeiten dieser Gemengelage aufeinander: zwischen Täter und Opfer gibt es eine ganze Reihe von Abstufungen quer durch die Familien – mit weitreichenden Folgen für die Lebensläufe der beteiligten Personen.


Der Autor schildert diese menschlichen Verstrickungen rund um den Terror mit einer bemerkenswerten Eindringlichkeit und schafft es so, allen Personen einen nachfühlbaren, psychologisch stimmigen Charakter zu geben. Man versteht diese Menschen, weil man sie so von innen heraus kennen lernt. Ihr Verhalten scheint zwangsläufig – weil sie so sind, wie sie sind. Was nicht bedeutet, dass es kein „richtig“ oder „falsch“ gäbe: es gibt keinen Zweifel daran, dass der Autor den sich schleichend ausbreitenden Hass, der in zahlreichen Morden endet, für ein Krebsgeschwür hält. Aber er lässt verstehen, warum dieser Tumor der Unmenschlichkeit auch zwischen zwei eng befreundeten Familien seine zerstörerische Kraft entfalten kann.

Das gesamt Buch ist wie ein riesiges Puzzle zusammengesetzt aus extrem kurzen Kapiteln von durchschnittlich ca. fünf Seiten. Es handelt sich jeweils um kurze Momentaufnahmen und diese setzen sich nur ganz allmählich zu einem Gesamtbild zusammen. Dabei wird insgesamt ein Zeitraum von über 20 Jahren durchmessen – jedes Kapitel setzt an einem anderen Punkt an. Dabei werden zwei Spannungsbogen parallel aufgespannt: die der entscheidenden Mordtat und die des Aussöhnungsversuchs.

Dass nicht nur die Konstruktion des Buches sondern auch die sprachliche Umsetzung von hoher literarischer Qualität ist, versteht sich schon fast von selbst.

Das größte Kompliment für den Autor eines solchen Buches ist aber vermutlich, dass seine Botschaft gehört wird. Diese Botschaft wird auf eine eher leise, aber absolut unüberhörbare Weise vermittelt: Die ganz normale alltägliche Menschlichkeit ist so viel wertvoller und bedeutsamer als jedes ideologisch aufgeblähte Ideal!

Der Roman von Aramburu macht Mut, weil sich die Humanität letztlich ihren Platz weitgehend zurückerobert. Aber er bietet auch mahnendes Anschauungsmaterial dafür, wie eine gesellschaftliche Verrohung im Dienste einer „großen Idee“ um sich greifen kann. Gründe, einer solchen Gefahr auch aktuell entgegenzutreten, lassen sich nicht nur im heutigen Spanien finden….

Patria
Patria

Bittori sitzt am Grab ihres Mannes Txato, der vor über zwanzig Jahren von Terroristen erschossen wurde. Sie erzählt ihm, dass sie beschlossen hat, in das Haus, in dem sie wohnten, zurückzukehren. Denn sie will herausfinden, was damals wirklich geschehen ist, und wieder unter denen leben, die einst schweigend zugesehen hatten, wie ihre Familie ausgegrenzt wurde. Das Auftauchen von Bittori beendet schlagartig die vermeintliche Ruhe im Dorf. Vor allem die Nachbarin Miren, damals ihre beste Freundin, heute Mutter eines Sohnes, der als Terrorist in Haft sitzt, zeigt sich alarmiert. Dass Mirens Sohn etwas mit dem Tod ihres Mannes zu tun hat, ist Bittoris schlimmste Befürchtung. Die beiden Frauen gehen sich aus dem Weg, doch irgendwann lässt sich die lange erwartete Begegnung nicht mehr vermeiden ...

Ein Bestseller in Spanien, monatelang auf Platz 1 der Bestsellerliste, ein epochemachender Roman über Schuld und Vergebung, Freundschaft und Liebe, der zeigt, wie Terrorismus den inneren Kern einer Gemeinschaft angreift und wie lange es dauert, bis die Menschen wieder zueinander finden.

Literatur:

Patria
Patria
von Fernando Aramburu

Blog-Artikel:

»Patria« von Fernando Aramburu

»Amerikanisches Idyll« von Philip Roth

Pablo Nerudas Liebesgedichte entdeckt

»Heldenplatz« von Thomas Bernhard

Frank Wedekind 100. Todestag

Gabriele D’Annunzio 80. Todestag

»Schneeglöckchen« von Joseph vo

Ernst Jünger 20. Todestag

Bertolt Brecht 120. Geburtstag

Adalbert Stifter 150. Todestag

George Gordon Byron 230. Geburtst

Lewis Carroll 120. Todestag



Lesetipps:

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Mittwoch, 11. Oktober 2017

»Was vom Tage übrig blieb« von Kazuo Ishiguro

Was vom Tage übrig blieb
Was vom Tage übrig blieb

Weltruhm erlangte Ishiguro mit seinem dritten Roman »Was vom Tage übrig blieb« (»The Remains of the Day«), der mit dem »Booker Price« ausgezeichnet und 1993 von James Ivory verfilmt wurde.

Stevens, ein alternder Butler, dient seit 30 Jahren auf Darlington Hall. Seinen Dienst hat er von jeher über alle privaten Wünsche und persönlichen Gefühle gestellt. Loyalität geht ihm über alles, und so verteidigt er seinen ehemaligen Dienstherren, Lord Darlington, trotz dessen politischer Unterstützung der Faschisten. Sein neuer Dienstherr, ein Amerikaner, verordnet Stevens eine Urlaubsfahrt, die den Butler zu Miss Kenton führt, die früher Hausdame auf Darlington Hall war.

Für Stevens hat sein Leben vor allem einen Sinn: Er will der perfekte Butler sein, ein Butler mit Würde, dessen Persönlichkeit sich so darstellt: Er hat keine; er ordnet alles seiner Position und seiner Funktion des Dienens unter. Obwohl er sich in gespielter Bescheidenheit noch von seinem Ideal entfernt sieht, erkennt man als Leser, dass er sich bereits selbst überholt hat, beispielweise als sein Vater in einer Dienstbotenkammer des Hauses stirbt, während der Sohn die Mitglieder einer Gesellschaft bedient. Um aber - ein wenig verschämt - die Wichtigkeit seines Dienens zu betonen, erzählt Stevens z.B., wieso das von ihm polierte Silberbesteck verantwortlich für den Gang der Weltgeschichte war.

Das äußerste, was er sich an Bindung zugesteht, sind "Kakaoabende" mit Miss Kenton. Aber selbst dabei geht es vor allem um die Belange des Hauses. Dass Liebe im Spiel sein könnte, verbietet sich Stevens zu denken.

Was vom Tage übrig blieb
Was vom Tage übrig blieb

Die Figur des Stevens trägt alle Merkmale in sich, die ihn zum Klischee des englischen Butlers machen könnten, zur Karrikatur seiner selbst, angefangen vom steifen Äußeren bis zum kleinsten Gedanken, der sich immer um die Wirkung auf andere dreht, aber nie um eigene Wünsche und Bedürfnisse. Sogar Antworten, die der Butler seinem Dienstherrn gibt, sind vorgefertigte Sätze, Floskeln ohne Individualität.
Wie der Autor es aber fertig bringt, dass das Klischee des Butlers zu einem lebendigen Protagonisten wird, ist meisterhaft. Aus einem Mann, über den man eigentlich lachen oder den Kopf schütteln müsste, wird eine tragische Gestalt, die aus einem selbstgezimmerten Gefängnis nicht herauskommt. Aus dem Unverständnis für dieses Leben wird Mitleid für ein Leben, das sich aufbäumt, um noch einen Sinn zu finden, aber ohne zu resignieren daran festhält, dass es lebenswert war und unter allen Umständen so fortgesetzt werden muss.

Dieser Roman lässt sich als Anleitung zum Unglücklichsein verstehen, denn der Butler Stevens wird von einem Ideal verleitet, einem Ziel zu folgen, das sich später als falsch herausstellt.Erkönnteauchgenausogut»Was vom Leben übrig blieb« lauten.

Literatur:

Was vom Tage übrig blieb
Was vom Tage übrig blieb
von Kazuo Ishiguro

Mittwoch, 28. Juni 2017

»Mitternachtskinder« von Salman Rushdie

Mitternachtskinder
Mitternachtskinder

»Mitternachtskinder« ist der Roman von Salman Rushdie, mit dem er weltberühmt wurde. Rushdie galt nach Erscheien des Buches als das indische Pendant zu Gabriel García Márquez.

Mitternachtskinder sind sie, geboren zwischen Null und Ein Uhr am 15. August 1947, dem Tag der Indien seine Unabhängigkeit bescherte. Und alle haben sie eine einzigartige, herausragende, nur ihnen bekannte Fähigkeit. So lehrt das Leben etwa unserem Helden und Ich-Erzähler Saleem Sinai, der Rotznase in die Gedanken seiner Mitmenschen einzutauchen.

Salman Rushdie erzählt die Geschichte eines jungen Mannes aus reicher Familie, von hohem Stand, der von der ambitionierten jungen Hebamme Mary Pereira kurzerhand mit dem zugleich geborenen Shiva getauscht wird, der in den Straßen Bombays aufwachsen wird, ohne Chance auf ein besseres Leben. Schon bald hat die junge Frau ihren Irrtum erkannt, ihr Gewissen jedoch ließ sie elf weitere Jahre mit der Untat leben.

Der Roman ist in drei Teile gegliedert, wobei im ersten Teil der Familienstammbaum mit dem Großvater beginnt, der in Heidelberg Medizin studiert hatte, um dann nach Kaschmir zurück zu kommen und ein junges Mädchen zu heiraten, das er durch ein Loch in einem Laken Stück für Stück ertasten konnte. Der zweite Teil erzählt die schelmische Geschichte der Kindheit des Ich-Erzählers, um schließlich im dritten Teil in einem Krieg, sein altes Leben von der Erde zu fegen und ihn dorthin zu verbannen, wo er von Geburtsrecht her leben sollte, in die Straßen und unter die Brücken Bombays.

Nicht zu Unrecht wird der Roman mit Marquez' »Hundert Jahren Einsamkeit« verglichen. Die Charaktere sind einzigartig, extravagant, durchwegs individuell und liebenswürdig. Ein ums andere Mal fügen sie sich in unbeschreiblicher Situationskomik ihren Lebensplagen und entwirren geduldig die zahlreichen, verspielt in der Handlung platzierten Verstrickungen, die immer wieder angedeutet, plötzlich mit ungehemmtem Hurra über mich Leser hereinbrechen. Selten habe ich so zufrieden in einen Roman hineingeschmunzelt! Doch der dritte Teil lässt alle Leichtigkeit hinter sich, ganz unvermutet, nur wenige Bomben reichen aus, eine ganz andere Geschichte aus dem zu bauen, was nach dem Krieg übrig geblieben war.

Die Geschichte der Familie Sinai ist auch die Geschichte Indiens, die Geschichte vom Weg zur Unabhängigkeit, von der Abspaltung des islamischen Pakistan, von den Kriegen und den Militärs und der Gründung Bangladesch's. Es ist die Geschichte des Lebens nach Möglichkeit der Geburtsstunde oder vielmehr des Geburtsrechtes. Der Kontrast aus unbeschwerter Kindheit in reichem Elternhaus und dem rastlosem Leben in den Slums Indiens Tag um Tag, die größte Kunst beherrschend: das Unsichtbarsein.

Ein Roman, der die unterschiedlichen Stimmungen eines Lebens erfunden haben mag, der im gleichen Atemzug höchste Zufriedenheit stimuliert wie er seinen Charakteren das Leben aushaucht, der in gleichem Maße humorvoll und spitzzüngig wie bitter und traurig ist!


Literatur:

Mitternachtskinder
Mitternachtskinder
von Salman Rushdie


Blog-Artikel:

Salman Rushdie 70. Geburtstag

Magischer Realismus in der Literatur

»Hundert Jahre Einsamkeit« von Gabriel García Márquez

»Die satanischen Verse« vor 25 Jahren erschienen

Mittwoch, 10. Mai 2017

»Die Fahnen: Roman in fünf Bänden« von Miroslav Krleža


»Die Fahnen: Roman in fünf Bänden« von Miroslav Krleža liegt jetzt erstmals in einer deutschen Übersetzung vor. Das monumentale Werk ist auf 2.170 Seiten - gespiegelt in einem Generationenkonflikt - eine literarische Großtat. »Die Fahnen« (»Zastave«) zeigen ein Kaleidoskop der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte, das Krleža zu einem großen europäischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts macht. Krleža zeichnet ein generationenübergreifendes Epochenbild.

Die Romanfolge in fünf Bänden »Die Fahnen« ist eine seltene Mischung aus Epochenbild und Gesellschaftsroman, Bewusstseins- und Konversationsroman – einem höchst geschliffenen, ähnlich Musils »Mann ohne Eigenschaften«. - In seinem umfangreichsten Werk, dem ab 1962 veröffentlichten fünfbändigen Roman »Die Fahnen«, der in den Jahren 1912 bis 1922 spielt und jetzt erstmals in einer deutschen Übersetzung vorliegt, zeichnet Krleža ein Panorama von der geistesgeschichtlichen und politischen Situation Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts.


Das Schicksal von Bürgern, Aristokraten, Politikern, Ministern, Bürokraten, Generälen, Kriegsgewinnlern und Träumern, die ganze Galerie der ungarischen, kroatischen und serbischen Intelligenz – steht im Vordergrund dieser Chronik. Kriegsereignisse und Liebesbeziehungen werden miteinander verwoben.

Die Fahnen: Roman in fünf Bänden - Band I
Die Fahnen: Roman in fünf Bänden - Band I

Krleža erzählt die historischen Ereignisse nicht nach, er bricht sie im Spiegel eines Generationenkonflikts: Kamilo de Emerički steht als oberster Würdenträger, als Ban, in den Diensten der Ungarn, die Kroatien beherrschen, und wird nach 1918 Minister im Königreich der drei Balkanvölker. Er dient der Macht, der Ordnung, gegen die sein Sohn aufbegehrt: Kamilo der Jüngere sympathisiert mit den serbischen Widersachern des k.u.k.-Imperiums, wendet sich aber wegen ihrer Gräuel im zweiten Balkankrieg 1913 von ihnen ab und wird zum Kommunisten.



     



Der kroatische Schriftsteller und Universalgelehrte Miroslav Krleža wird gerne mit Karl Kraus, Bertolt Brecht oder Robert Musil verglichen, manche sprechen von ihm als "kroatischer Goethe". Jean-Paul Sartre soll gesagt haben, er hätte sich viele künstlerische und politische Umwege ersparen können, hätte er früher um das Werk von Miroslav Krleza gewusst. Vier weitere neu übersetzte Bände folgen noch.


Weblink:

Die atemberaubenden Rochaden der kroatischen Intelligenz - www.deutschlandradiokultur.de


Literatur:

Die Fahnen: Roman in fünf Bänden - Band I
Die Fahnen: Roman in fünf Bänden - Band I
von Miroslav Krleža


Blog-Artikel:

»Das Maskenspiel der Genien« von Fritz von Herzmanovsky-Orlando

Fritz von Herzmanovsky-Orlando 140. Geburtstag

Ludwig Uhland 230. Geburtstag

»Frühlingsglaube« von Ludwig Uhland

Donnerstag, 4. Mai 2017

»Das Maskenspiel der Genien« von Fritz von Herzmanovsky-Orlando

Das Maskenspiel der Genien
Das Maskenspiel der Genien

Fritz von Herzmanovsky-Orlando hat 1929 seinen weithin berühmten, jedoch vollkommen unbekannten Roman »Das Maskenspiel der Genien« abgeschlossen. Der Roman ist ein wahres Königtum des phantasievollen Einfallsreichtums. Die K.u.K.-Groteske spielt in der Tarockei, einer fiktiven Landschaft im Südosten Europas und vermittelt viel vom imperialen Glanz des Kaiserreichs. Der zu Lebzeiten unveröffentlichte und zunächst deutlich gekürzt publizierte Großroman »Das Maskenspiel der Genien« wurde 2011 in einer unkommentierten "Volksausgabe" veröffentlicht.

Später im Roman dann im Fortgang eine Huldigung des klasssischen Ideals der Antike unter der Sonne Arkadiens: Einem ägäischen Wunderland voller mondäner Feste, bizarrer Einsiedler, berückender Landschaft und undeutlicher politischer Zugehörigkeit – die Türken werden nicht wirklich geleugnet, spielen aber nur eine untergeordnete dekorative Rolle – ist die eigentliche politisch-surrealistische Erfindung Herzmanovskys vorgelagert: die Tarockei, ein vom Fürsten Metternich geschaffener Pufferstaat im Süden der Donaumonarchie, der den Namen von seiner monarchischen Konstitution her trägt: Er wird nach den Regeln des Tarock-Spieles regiert.

In der Tarockei herrscht ein Vierkönigtum und die Könige werden aufgrund der Ähnlichkeit mit den Tarockfiguren erwählt. Die vier Könige des Landes werden ausschließlich nach ihrer physiologischen Ähnlichkeit mit den Spielkarten ausgesucht, und so gelangen die erstaunlichsten Personnagen auf den Thron. Hinter den Tetrarchen aber steht der eigentliche Machthaber, ein unheimlicher, nie erblickter Rat der Drei, bestehend aus den Tarockkarten Sküs, Mond und Pagat.

Herzmanovsky-Orlando phantasierte sich in seinen Werken mit der „Tarockei“ ein mystisches Traumland, das er in einem ausschweifenden, barocken, ans Parodistische grenzenden Stil schilderte. Als Hauptfigur seines grotesk-phantastischen Romans »Maskenspiel der Genien« ließ er den italienischen Humanisten Cyriakus von Pizzicolli auftreten.


Den ersten Teil der Reise führt den Abenteurer und Forscher Cyriak von Pizzicolli, eine literarische Verfremdung des Vorbildes Cyriacus von Ancona, in die Tarockei. Den zweiten Teil der Reise führt Pizzicolli nach Arkadien und in das antike Griechenland. Ins Bizarre gleitet die Reise nach Griechenland zur Zeit der Gotik ab. Hier spielt das Maskenspiel in der neuerwachten Gotik der Levante. Durch ungeheure Tragik gerät er in ein antikes Göttermysterium.


Die Tarockei ist keine Insel der Seligen, obwohl von der Außenwelt der Nachbarstaaten gut abgeschirmt. Sie enthält natürlich Elemente einer Satire auf das alte Österreich mit seiner im Rückblick von heute bewunderten Bürokratie, die vor allem durch die von ihr entwickelte Sprache zu ihrer Zeit aber auch in manchem administrativen Exzess im Gedächtnis geblieben ist.

Die K.u.K.-Groteske nähert sich in der Tarockei und ist bedrohlich in ihren auf die Spitze getriebenen Absurditäten. Alle diese Landschaften und Staaten werden von der tragischen Hauptfigur Cyriak von Pizzicolli durchreist, der, beständig von Hunden umknurrt, seinem erotischen Ideal, einem strahlend schönen Knabenmädchen hinterherspürt, so lange bis sich ihm die schreckenerregende Göttin Artemis offenbart und ihn den Tod des Aktäon sterben lässt, der in einen Hirsch verwandelt von Jagdhunden zu Tode gehetzt wurde.



Herzmanovsky ist Manierist und Groteskenmaler, die erotische Obsession und die jede erotische Spannung aufhebende Fratzenmalerei treten bei ihm janusköpfig auf, und je ungebräuchlicher und ungewohnter ein Wort oder historisches Detail sein mag, desto eher wird es Eingang in ein Herzmanovsky-Manuskript finden können. Seine groteske Lautmalerei treibt allerdings viele recht skurile Blüten. Schon 1989 hatte der Residenz-Verlag deshalb eine Ausgabe der vollständigen Fassung des Romans gewagt und ihr einen ausführlichen Kommentar beigegeben, der auch notwendig ist, wie man ja auch bei Jean Paul für solche Verständnishilfen dankbar ist.

Der Roman steht in der Tradition der Fantasy-Literatur mit Geistesverwandten wie Laurence Sterne und Jean Paul. Ein recht bunter und mit Sicherheit einzigartiger Mix aus entlegenem Wissen und von keinen Hemmungen gebremster Fantasie sei diese Geschichte, die in der Tarockei spielt, einem Land, in dem - wie der Name schon sagt - vieles auf Kartenspiele Bezug hat. Diese Mischung aus dem Grotesken, dem Komischen und dem Schwärmerischen ist in all ihrer Ungewöhnlichkeit eben doch eine Spezialität der deutschen Literatur – Heinrich Heine nickt zustimmend – und in diesem Sinn ist auch der Ritter von Herzmanovsky-Orlando, der Abkömmling vieler Völker der Donaumonarchie, ein überaus deutscher Autor.

Es geht hier nicht um die Handlung an sich oder gar um lineares Erzählen, sondern um die groteske Verzerrung einer monarchischen Welt, die Lust an der Abschweifung, am Einfall als solchen, und zwar auf stets auch humoristische Weise. Dabei keine tarocke Phantasie, die nicht gesteigert superb werden könnte. Kurzum: ein manieristisches Werk eines Groteskenmalers, aber eines aus der absoluten Meisterkategorie. - Dies ist eine abenteuerliche Geschichte einer Reise in eine kunstvolle Phantasiewelt, viel zu phantastisch um je erdacht zu werden - eine Phantastik auf Abwegen.

Der Abkömmling der Donaumonarchie hat der Monarchie mit seinem Werk ein groteskes Denkmal gesetzt. Sehr empfehlenswerter Lesestoff für alle, die wirklich gute phantastische Literatur und nicht nur "Fantasy" lesen wollen. Vergessen Sie alles, was Sie an humorvoller skuriler Phantastik je gelesen haben!

Literatur:

Das Maskenspiel der Genien
Das Maskenspiel der Genien
von Fritz von Herzmanovsky-Orlando

Phantastik auf Abwegen. Fritz von Herzmanovsky-Orlando im Kontext
Phantastik auf Abwegen. Fritz von Herzmanovsky-Orlando im Kontext
von Bernhard Fetz und Klaralinda Ma



Blog-Artikel:

Fritz von Herzmanovsky-Orlando 140. Geburtstag

»Der Mann ohne Eigenschaften« von Robert Musil

Tarockspiel:

Tarock - Wikipedia



Samstag, 3. Dezember 2016

»Cox oder Der Lauf der Zeit« von Christoph Ransmayr





Cox: oder Der Lauf der Zeit

»Cox: oder Der Lauf der Zeit« von Christoph Ransmayr ist ein farbenprächtiger Historienroman über einen maßlosen Kaiser von China und einen englischen Uhrmacher, über die Vergänglichkeit und das Geheimnis, dass nur das Erzählen über die Zeit triumphieren kann. Um Zeit und Wirklichkeit, um Zeit und Unendlichkeit geht es Christoph Ransmayr in seinem neuen Roman ebenso wie um Glück, Liebe und der Suche nach wirklichen Glücksmomenten. Der Roman ist ein wahres Kaisertum des phantasievollen Einfallsreichtums.

Qiánlóng, Kaiser von China, lädt den englischen Automatenbauer und Uhrmacher Alister Cox an seinen Hof. Der Meister aus London soll in der Verbotenen Stadt Uhren bauen, an denen die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Zeiten des Glücks, der Kindheit, der Liebe, auch von Krankheit und Sterben abzulesen sind. Schließlich verlangt Qiánlóng, der gemäß einem seiner zahllosen Titel auch alleiniger Herr über die Zeit ist, eine Uhr zur Messung der Ewigkeit. Cox weiß, dass er diesen ungeheuerlichen Auftrag nicht erfüllen kann, aber verweigert er sich dem Willen des Gottkaisers, droht ihm der Tod. Also macht er sich an die Arbeit.

Cox: oder Der Lauf der Zeit

Mitte des 18. Jahrhunderts reist der Londoner Uhrmacher Alistair Cox mit drei Mitarbeitern nach China. Kaiser Qianlong höchstpersönlich hat ihn eingeladen, nachdem er auf seine Handwerkskunst aufmerksam geworden war; Cox soll ihm eine Uhr bauen, wie es noch keine gegeben hat. So treffen Seelenverwandte aus zwei Hemisphären aufeinander: Hier der geniale Konstrukteur und Zeitmesser auf der Höhe seiner Kunst, dort der allmächtige, kunstsinnige Herrscher, der sich neben Himmel und Erde nun auch die Zeit untertan machen will, und das Werkzeug dazu soll Cox ihm an die Hand geben.

In leuchtenden Farben entsteht das Bild eines überaus fremden Landes, prächtig, geheimnisvoll und gefährlich, das so präzise wie ein Uhrwerk funktioniert und wo ein falscher Schritt, ein falscher Blick oder ein falsches Wort das Ende bedeuten können, des Lebens oder wenigstens der körperlichen Integrität, wie die Engländer gleich bei ihrer Ankunft anlässlich eines massenhaften Nasenabschneidens lernen müssen. Auch wenn sie sich des Kaisers Wertschätzung erfreuen und jeder Wunsch von ihren Augen abgelesen wird, ganz sicher können sie sich nie sein.

Christoph Ransmayrs Sprachkunstwerk ist ein historischer Reiseroman, exotisches Märchen und philosophisches Traktat über das Wesen der Zeit zugleich, irgendwie aus dieser gefallen und deshalb ganz einzigartig.


Literatur:

Cox: oder Der Lauf der Zeit

Cox: oder Der Lauf der Zeit von Christoph Ransmayr

Cox oder Der Lauf der Zeit Rezension

Cox oder Der Lauf der Zeit Rezension« von Joachim Weiser