Christa Wolf hat mit »Kassandra« eine historische Erzählung geschrieben, welche den antiken Stoff von der Geschichte Trojas aufgreift, um ihn feierlich seines Mythos zu berauben und zugleich eine tragische Dimension zu verleihen. Die Erzählung führt auf mythologisch verschlüsselte Weise die Absurdität eines jahrzehntelangen, kräftezehrenden und vor allem sinnlosen Krieges vor Augen. Die Schriftstellerin wechselt dazu die Perspektive und erzählt die Geschichte Trojas nun aus der weiblichen Sicht.
Erzählt wird der Untergang von Troja, wie ihn die trojanische Seherin und Königstochter Kassandra erlebt hat. Es ist keine Geschichte vom Trojanischen Krieg, aber eine Geschichte von der Unterdrückung (der Frauen) und vom Zerfall einer Hochkultur. Als »Seherin« erkennt Kassandra all die Lügengebäude, die sie in Troja umgeben. Ganz im Gegensatz zu den übrigen Menschen. Diese glauben die Durchhalteparolen der Verteidiger und sehen nicht, wie Troja um sie herum auch von innen zerfällt. Beziehbar auf Christa Wolfs eigenes Leben und ihre Selbstwahrnehmung in der DDR.
Kassandra ist in der griechischen Mythologie die Tochter des trojanischen Königs Priamos und der Hekabe, damit Schwester von Hektor, Polyxena, Paris und Troilos sowie Zwillingsschwester von Helenos.
Die trojanische Seherin und Königstochter Kassandra, mittlerweile Kriegsbeute des Königs Agamemnon, weiß, dass sie in wenigen Stunden sterben wird. Klytämnestra wird sie töten, und Kassandra erinnert sich während dieser letzten Stunden an ihr zurückliegendes Leben als Seherin, als Zeugin des trojanischen Krieges, an ihre Zeit am Skamander. Entsprechend ist der Text als innerer Monolog angelegt, der mehrere Zeitebenen berührt.
»Kassandra« ist kein trojanisches Heldenepos, keine Beweihräucherung männlicher Kampfkraft, sondern das genaue Gegenteil. Aus weiblicher Sicht, nämlich aus Sicht der trojanischen Königstochter Kassandra, werden die Ereignisse geschildert, wobei allerdings nicht der Trojanische Krieg an sich, sondern ihre Seelenlandschaft auf dem Weg zur Selbstfindung- und Selbstbefreiung im Mittelpunkt steht.
Als »Kassandra« 1983 erschien, traf Christa Wolf den Nerv der Zeit in der damals heftig frauen- und friedensbewegten Gesellschaft der Bundesrepublik. Angesichts der atomaren Bedrohung und des Wettrüstens zwischen den Großmächten machte sich in Deutschland eine geradezu apokalyptische Stimmung breit.
Literatur:
Kassandra von Christa Wolf