Samstag, 10. Dezember 2016

»Straße der Wunder« von John Irving


Straße der Wunder

»Straße der Wunder« heißt der neue Roman von John Irving, im englischen Original »Avenue of Mysteries«. Die Geschichte um den mexikanischen Waisenjungen Juan Diego enthält natürlich viele Wunder, Glauben, Erinnerungen und Träume, zugleich aber auch Irvings gekonnte Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart und nicht zuletzt einen politischen Hintergrund. John Irving taucht tief ein in die Welt des mexikanischen Wunderglaubens.

Juan Diego und seine stumme Schwester Lupe sind Müllkippenkinder in Mexiko. Ihre einzige Überlebenschance: der Glaube an die eigenen Wunderkräfte. Denn Juan Diego kann fliegen und Geschichten erfinden, Lupe sogar die Zukunft voraussagen, insbesondere die ihres Bruders. Um ihn zu retten, riskiert sie alles. Verführerisch bunt, magisch und spannend erzählt: zwei junge Migranten auf der Suche nach einer Heimat in der Fremde und in der Literatur.


Juan Diego hat sein Leben als absoluter Underdog begonnen und doch seinen Weg gemacht, wenn auch hinkend. Seine Kindheit verbringt er, ein zapotekischer Mischling, gemeinsam mit der wilden, in unverständlichen Zungen redenden, geliebten Schwester Lupe, auf der Müllkippe des südmexikanischen Oaxaca, umsorgt freilich von den Jesuiten-Patres des „Hogar de los Ninos Perdidos“, des „Hauses der verlorenen Kleinen“.

Der Deponiechef Riveras - möglicherweise sein Vater - fährt ihm versehentlich mit seinem Pickup-Truck über den Fuß, so dass er sein Lebtag verkrüppelt bleibt. Dennoch rückt eine Karriere als Hochseilartist im Zirkus „La Maravilla“, der Wunderbaren, vorübergehend in seine Reichweite.

Durch eine Verkettung glücklicher Umstände – der Jesuitenkandidat Edward verliebt sich in die stämmige Transvestitin Flor, die beiden tun sich zusammen, um Juan Diego zu adoptieren – landet er schließlich am College von Iowa City im Herzen der USA. Dort entwickelt er sich, der sich schon auf der Kippe als zäher Autodidakt mit Büchern gebildet hatte, zum international angesehenen Schriftsteller. Jetzt folgt Juan Diego einem Gelübde, das er seinem sterbenden Freund, einem amerikanischen Hippie mit riesigem Jesus-Tattoo, gegeben hatte, und will das Grab von dessen 1945 auf den Philippinen gefallenen Vater besuchen. Und wenn ihm, dem weltfremden Einzelgänger, nicht sein alter Creativ-Writing-Schüler Clark sowie die beiden Geisterladys gewaltig unter die Arme griffen, wäre wohl nichts geworden aus dieser Mission.


»Straße der Wunder« heißt der neue Roman von John Irving, im englischen Original »Avenue of Mysteries«. Und von Mysterien und Wundern macht er reichlich Gebrauch, ganz im Stil des magischen Realismus, der manchen Autoren unentbehrlich scheint, sobald ihr Buch in den wärmeren Klimaten der Dritten Welt spielt. Insbesondere die Heilige Jungfrau zeigt sich eingreiffreudig und funkelt Juan Diegos Mutter, als diese deren riesige Statue in der Kirche abstauben will, wegen des allzu freizügigen Dekolletés so böse an, dass die arme Esperanza von der Leiter fällt und stirbt.

Dann jedoch weint das „Monster Maria“, wie sie bis zum Überdruss genannt wird, im Beisein von neun Zeugen wider haselnussgroße Tränen über Juan Diegos trauriges Schicksal, dass es nur so spritzt. Das alles klingt erst mal recht lustig; aber wie immer wird auch hier der Realismus von der Magie beschädigt, indem sie die Glaubwürdigkeit des Konstrukts insgesamt erschüttert und bewirkt, dass man sich auch echt schlimme Dinge (wenn etwa die Löwen im Zirkus die Schwester töten) nicht mehr so recht zu Herzen nimmt.


Irving aber braucht die Wunder: Sie sind das Einfallstor seiner ironischen Sentimentalität, und zugleich bahnen sie den sozialen Konstellationen den Weg, die man als unwahrscheinlich selbst dann bezeichnen muss, wenn man die Geisterbegegnungen abzieht. Das Grundmuster ist dem Leser vertraut seit »Garp und wie er die Welt sah«, dem Roman, der 1978 Irvings Ruhm begründete: Die schrillen Außenseiter tun sich zusammen – Transvestiten, Krüppel, Flagellanten, Zwerge, Eingeborene – und begründen durch ihre Solidarität eine besondere Art von Patchwork-Familie. Es sind kaleidoskopische Variationen auf das Motiv der Bremer Stadtmusikanten. Hier liegt der Kern von Irvings Erzählens: Es lässt als wahres Ereignis nur den Augenblick zu, in dem die Figuren einander finden und erkennen, von da an kann nichts mehr von Bedeutung geschehen. So viele groteske Wendungen Irving auch ins Spiel bringen mag, eine eigentliche Handlung entspringt nicht mehr daraus. Stattdessen ähnelt das Buch einem riesigen Tableau, auf dem der Scheinwerfer mal dieses und mal jenes Teil beleuchtet.



Die Geschichte um den mexikanischen Waisenjungen Juan Diego enthält natürlich viele Wunder, Glauben, Erinnerungen und Träume, zugleich aber auch Irvings gekonnte Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart und nicht zuletzt einen politischen Hintergrund.

Mit Irvings Helden reist der Leser von Mexiko bis zu den Philippinen, begleitet ihn von der frühen Jugend bis ins Alter, begegnet zahlreichen grotesken Figuren, etwa der Transsexuellen Flor, amüsiert sich bestens mit Irvings tiefsinnigem Humor und lobt nicht zuletzt die dichte Atmosphäre dieses wunderbaren Romans.

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von John Irving



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