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Samstag, 18. September 2021

»Das Walnusshaus« von Miljenko Jergovic

Das Walnusshaus
Das Walnusshaus

Miljenko Jergović, geboren 1966 in Sarajevo, lebt heute in Zagreb. Er arbeitet als Schriftsteller und politischer Kolumnist und ist einer der großen europäischen Gegenwartsautoren. Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet worden. Miljenko Jergović gehört zu den großen und bedeutendsten Erzählern Osteuropas. Zu seinen bekanntesten Werken gehören »Das Walnusshaus«, »Sarajewo Malboro« und »Mama Leone«.

Mit der verrückten Manda, die den Briefträger beißt, beginnt alles und damit, dass sie im Krankenhaus von einem Arzt mit einer Überdosis eingeschläfert wird. Siebenundneunzig ist die Alte und hat ein ganzes Jahrhundert in Dubrovnik erlebt. Stück für Stück rollt der Autor ihr Leben auf, geht zurück, und nach und nach erleben wir die Geschichte der Frau sowie ihrer Heimatstadt Dubrovnik.

Meisterhaft erzählt Miljenko Jergovic die Lebens- und Liebesgeschichten mehrerer Generationen. Die 600 Seiten prallvoll mit Geschichte und Geschichten. Zwischen Grauen und Komik entsteht die tragische Geschichte des Balkans im 20. Jahrhundert. Miljenko Jergovic erzählt die Geschichte einer Frau (und ihren weiteren Familenangehörigen) aus Dubrovnik, deren Leben praktisch das ganze 20. Jahrhundert erfasst. Und er erzählt diese Geschichte rückwärts!



Der Autor nimmt uns mit auf einer Reise durch die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts, erzählt aus den höchst individuellen Blickwinkeln seiner Figuren, einfacher Menschen, durchwegs Kindern ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft.



Weblink:

Das Walnusshaus
Das Walnusshaus
von Miljenko Jergović

Samstag, 11. September 2021

»The Dunkiade« von Alexander Pope

The Dunciad: In Four Books by Alexander Pope (2012-11-18)

»Die Dunkiade« ist ein satirisches Gedicht des englischen Dichters und Schriftstellers Alexander Pope.

Als seine Edition der Shakespeareschen Werke von dem Publizisten und Shakespeare-Herausgeber Lewis Theobald 1726 angegriffen wurde, antwortete er 1728 in Versform mit dem Spottepos »The Dunciad« (»Die Dunkiade«, 1778), in dem er in satirischer Form Theobald auf den Thron der Dummköpfe stellte und zugleich mit der sogenannten Grub Street, der Zunft der Lohnschreiber, abrechnete.

Die »Dunkiade« beginnt mit der Anrufung einer Göttin. Diese Göttin ist, die Stumpfheit, TochterdesChaos und der ewigen Nacht. Sie regierte schon, bevor die Sterblichen lesen und schreiben lernten. Und das sie eine Göttin ist, wird sie ewig leben.

Der Held des Gedichts ist ein glückloser Poet, dem nichs einfällt. Schließlich verbrennt er aus Verzweiflung seine eigenen Werke zusammen mit denen von Shakespeare und Moliere. Vom Rauch des Opfers gnädig gestimmt, offenbart sich ihm die Göttin und entführt ihn in ihr Heiligtum. Dort salbst sei ihn zum König un umnebelt ihn mit Opiumschwaden, fortan führt er eiene neuen Namen - Dummkopf I.

Zu Ehren der fresich genkrönten Majestät fidnen homerische Wettkämofe staatt. Sie werden nicht vom König, sondern von der Königin höchst perslnllich ausgerichtet. Als erstes müssen die Dichter, diezu Tausendne in das Reich der Dumpfheit gepilgert sind, beweisen, daß sie Krach machen können. Als nächstes sind die Journalisten dran. Sie müssen im Schlammtieftauchen ihren Mann stehen. Einer berichtet hinterher, daß ihm dort unten im Moder aus Verleumdungen und Gerüchten erotische bräunliche Schlammnymphen begegnet seien.

Zu guter Letzt werden die Literaturkritiker schwer geprüft. Während dsa Publikum ein beruhigendes Summen anstimmt, wird ihnen aus dickleibigen Wälzern vorgelesen. Wer nicht einschläft, hat gewonnen.

Nach den Wettkämpfen ruht sich König im Tempel seiner Königin aus. Während er seinen Kopf in ihrem Schoß birgt, steigen wundersame Visionen
in ihm auf. Der Held wähnt, das eine verrückte Muse ihn ins Elysium führt, wo er Zeuge wird, wie die Seelen der ungeborenen Dichter mit dem Wasser der Lethe getauft werden, das Vergessen schenkt.

Danach führt ein klappriges altes Gespenst den Helden auf den Berg der Visionen, von wo aus er Vergangenheit und Gegenwartder Dumpfheit sehen kann. Ehrfürchtig betrachet er die andalenhorden, die alles kurz udn klein schalgen, was ihren geistigen Horizont übersteigt. Er betrachtet den Siegeszug der religiösen Intoleranz, bei demn Priester Bücher verbrennen, die sie nie gelesen haben.

Er enthüllt, daß bald auch diebritischen Inseln wieder dem Reich der Königin einverleibt werden. Eine bleierne Zeit bricht an, in der dei besten Köpfe nur noch dazu da sind, daß man sie hängen lässt.

Den Schluss bildet eine Prophetie. wird mit der Zukunft bekannt gemacht. Dabei erfährt er, daß die über eine Massenvernichtungswaffe verfügt: ihr Gähnen. Niemand kann sich ihm entziehen: Bald schlafen ganze Kirchengemeinden bei der Predigt ein, darauf die Schulen, die Univesrsitäten und auch das Parlament macht ein Nickerchen.

Mit seinen letzten Versen beschreibt Alexander Pope, wie der Triumph der Göttin universal wird.


Literatur:

The Dunciadn
The Dunciad
von Alexander Pope

Samstag, 14. August 2021

»Der Mensch lebt im Holozän« von Max Frisch



Der Roman »Der Mensch lebt im Holozän« von Max Frisch spielt in einem einsam gelegenen Bergtal in den Schweizer Alpen. Manches über das Dichterdorf Berzona, in dem Max Frisch gelebt hat, findet sich in Frischs Erzählung wieder. Wegen seiner Ursprünglichkeit und Abgeschiedenheit hat diese karge Berglandschaft immer wieder Fremde angelockt. Romanciers und Revolutionäre, Aussteiger und Asylsuchende. Anfang des vorigen Jahrhunderts waren es vor allem Künstler, die das Tal für sich als unberührten Ort entdeckten. Um hier den Erholungsurlaub zu verbringen, zu studieren oder schöpferisch tätig zu sein.

Es ist August in den Alpen. Die Wolken haben sich zwischen den Bergen verkeilt. Der Dauerregen weicht den Boden auf. Es heißt, ein Felssturz habe das Tal abgeriegelt. An Gartenarbeit ist nicht zu denken. Herr Geiser sitzt in seinem Haus fest und versucht, sich die Zeit zu vertreiben. Er fertigt Gebäude aus Knäckebrotscheiben, bestimmt die unzähligen Arten des Donners, schlägt Begriffe im Lexikon nach. Um nicht beständig dem Regen zu lauschen, beginnt er zu lesen. Die Gedanken aber schweifen ab.

Geiser ist der tragische Protagonist in Frischs später Erzählung »Der Mensch lebt im Holozän«. In dem Buch wird dessen Isolation in einem Bergtal erzählt, einhergehend mit einem präsenten Gewitter und Geisers parallel stärker werdenden Demenz bis zum Schlaganfall.

Die Genialität dieses Werks steckt in Frischs perfektem Einklang der literarisch-ästhetischen Trias: Inhalt, Form und Stil. Die Erzählung wird aus der personalen Perspektive Geisers beschrieben. Die Syntax ist stark reduziert. Sie kulminiert in bloßen Wiederholungen der Feststellungen - der Vergewisserung des Daseins als geschichtlicher Mensch, der erinnert, um zu wissen. Die kriechende Demenz ist Ursache dieser sprachlichen Reduktion. Geiser versucht sich festzuhalten. Das Festhalten scheint ihm nur noch durch das Niederschreiben und Entäußern des Wissens von lexikalischen Einträgen auf Materiales, ins räumliche Draußen zu gelingen. Die Erinnerung von der Bergtour mit seinem Bruder Klaus auf den Matterhorn umschreibt parabolisch die einstige Stärke im (noch) Sich-Festhalten-Können an/in der Welt, im Erklimmen der Höhe, der Flucht aus jenem Tal der Krankheit, die in der Vergangenheit selbstverständlich war (Frisch wechselt hierbei auch in den entsprechenden, sonst im Präsenz gehaltenen Tempus). Im auch gelingenden Versuch der erneuten Wanderung, des abermaligen Ausbruchs, bleibt nur die Frage: wozu eigentlich? Der Sinn verloren, vergessen. Eine bittere Erfahrung ohne jede Erkenntnis.



Frisch spielt mit der Symbolik. Geiser sieht den Salamander in seinem Bad. Ist er nur noch ein kleiner Lurch. Wieder werden lexikalische Collagen ausgeschnitten von Sauriern, den großen und majästätischen Riesen. Nur noch Lurche in der fortgeschrittenen Zeit. Hier gelingt dem Schriftsteller auch eine kleine Philosophie der Sprache. Wissen ist versprachlicht, den Dingen sind Namen angeheftet. Doch was ändert sich, wenn der Mensch von Geiser - wie im Lexikoneintrag - nicht etwa im Pleistozän, sondern im Holozän erscheint? Der Ausdruck der Verwechselung hat die Ordnung eines Menschenbildes (sei es um der Pathologie willen) zerstört. Ist diese Ornung aber eben doch nur eine menschliche. In der Collage des Schlaganfalls wird Geisers Tragödie realisiert - ein letztes Gewusstes bleibt: "Was heißt Holozän! Die Natur braucht keine Namen. Das weiß Herr Geiser. Die Gesteine brauchen sein Gedächtnis nicht."

Das Buch ist sehr einfach zu lesen. Und doch steckt in ihm eine Brillanz, die erst nach einer Analyse der eingesetzten Technik und Stilistik sich offenbart. Für eine Interpretation reicht leider meine Kenntnis über das Gesamtwerk und das Leben des Schrifstellers nicht, der vermutete autobiographische Züge als "Schwachsinn" abgetan hat. Die Stellung des Menschen in einen Titel mit dem Wort "Holozän" ist klar eine philosophische Fragestellung. Die Stellung des Menschen im Kosmos, in der Zeit, in der Geschichte wird thematisiert, wie die Collage von der Eschatologie uns glauben machen will. Auch die metaphysische Frage, was denn von den Dingen bliebe, ohne die Menschen.

Buchempfehlung:

Der Mensch

Der Mensch erscheint
im Holozän
vom Max Frisch

Blog-Artikel:

Max Frisch in Berzona - Kulturwelt-Blog

Weblink:

Max Frisch in Berzona - www.dw.com

»Roßhalde« von Hermann Hesse

Roßhalde
Roßhalde

»Roßhalde ist ein autobiografisch geprägter Roman von Hermann Hesse. Die Verknüpfung zwischen Leben und Werk des Autors besonders stark. So ähnelt das Anwesen »Roßhalde« Hesses Zuhause Anno 1914, bei Veröffentlichung des Buches. Vorbesitzer des realen Anwesens war wie Hesses Protagonist, Johann Veraguth, ein Maler und auch Hesse entdeckte um diesen Zeitraum die Malerei für sich.

Roßhalde - so heißt das idyllische Anwesen, auf welchem ein Künstlerehepaar mit seinen Söhnen um 1910 lebt. Roßhalde ist so groß, dass sich das an Gefühlen vergrämte Ehepaar aus dem Weg gehen kann. Frau Adele wohnt mit dem kleinen Pierre im Haupthaus. Lediglich zu den Mahlzeiten kommt man zusammen. Albert, der die meiste Zeit im Internat verbringt, hat sich komplett von seinem Vater, dem bekannten Maler Johann Veraguth, abgewendet. Er spürt, dass die Mutter, die er über alles liebt, unter der abgestumpften Ehe leidet und gibt dem Vater die Schuld daran. Wenn Albert die Ferien auf Roßhalde verbringt, meiden sich Vater und Sohn genauso wie es die Eltern das ganze Jahr über tun.

Hermann Hesse beschreibt die unglückliche Ehe mit wenigen Worten, aber so sensibel, dass der Leser genau das empfindet, was die Entfremdeten füreinander fühlen oder besser gesagt nicht mehr fühlen. Der einzige, der etwas Licht und Freude in dieses trübe nebeneinanderher Leben bringt, ist der kleine Pierre. Johann überfällt immer wieder die Angst, auch Pierre an seine Mutter zu verlieren. So kämpfen Mutter und Vater tonlos um die Gunst des aufgeweckten und altklugen Pierres. Bis Pierre plötzlich erkrankt.

In der autobiografischen Erzählung schildert Hesse die letzten Wochen und Monate der Beziehung, zwischen dem international geschätzten Maler Veraguth, seiner Ehefrau Adele und den beiden Söhnen Pierre und Albert. Die Entfremdung der beiden Ehepartner spiegelt sich u.a. darin, dass Veraguth, in seiner Malerei Zuflucht suchend, in einem Anbau an seinem Atelier auf dem Gut Roßhalde lebt, nur wenige Steinwürfe entfernt vom Herrenhaus in dem seine Frau sich in ihrer Abgeschiedenheit eingerichtet hat.

Der ältere Sohn Albert kommt nur in den Ferien aus dem Internat zu Besuch. Vor dieser Kulisse stellt Pierre, der siebenjährige gemeinsame Sohn, die einzige Gemeinsamkeit der beiden Eheleute dar. Erst durch den Besuch eines Freundes, der wie ein Nachhall einstiger "besserer, schönerer" Zeiten den Künstler in die Realität zurückholt, sieht sich Veraguth mit der Tatsache konfrontiert, dass er sich seinem Leben und damit seinen unaufgearbeiteten Beziehungsproblemen stellen muss. Beschleunigt wird diese erzwungene Verarbeitung noch durch die schwere Erkrankung seines abgöttisch geliebten Sohnes Pierre.

»Tu den Schritt und wirf einmal alles weg,
so wirst du plötzlich die Welt wieder
mit hundert schönen Dingen auf dich warten sehen.«


Was die Ehe des Malers Johann und seiner Frau, der Pianistin Adele Veraguth, noch zusammenhält, ist die Liebe zu ihrem jüngsten Sohn Pierre, sonst leben die beiden getrennt, innerlich wie räumlich, der Maler in seinem Atelier, Adele im Wohngebäude der Roßhalde. Ihre Gemeinsamkeiten sind erschöpft, und die Einsamkeit hat sie verhärtet und wortkarg gemacht. Der plötzlichen Erkrankung des geliebten Sohnes stehen die Eheleute fassungslos gegenüber.

Ein Jugendfreund besucht Johann seid langen Jahren, erkennt den elenden Zustand indem sich die Ehe befindet, und empfiehlt Johann loszulassen und eine erholenden Reise nach Indien anzutreten. Johann zögert mit seiner Einwilligung und reflektiert in einem schmerzlichen Prozess des Nachdenkens die Gründe für den Zerfall der Ehe.

Dann erkrankt plötzlich der Sohn der Eheleute lebensbedrohlich, als wäre dies geradezu das Resultat und Sinnbild, des sich in Auflösung befindenden Ehebundes.


Buchempfehlung:

Roßhalde
Roßhalde
von Hermann Hesse

Samstag, 17. Juli 2021

»Saint Tropez« von Wolf Wondratschek


Saint Tropez: und andere Erzählungen


»Saint Tropez« ist ein autobiografischer Roman von Wolf Wondratschek - ein traurig leuchtend schöner Erzählungsband.

Wolf Wondratschek schreibt Lebensgeschichten - Meisterliche Erzählungen über das Schicksal von Menschen, die durch unerhörte Begebenheiten aus der Bahn gekippt werden. Mit großer stilistischer Brillanz erzählt Wondratschek von der Macht und der Magie des Zufalls im Leben eines jeden Menschen.

"Es ist seltsam, wie viel erfinden müssen, um das Leben zu verstehen, denn was wäre die Realität ohne die Einsicht ihrer Erfindung, was für einen Wert hätte die Wahrheit ohne den Komfort des Humors und welche Wahrheit die Liebe ohne das Schicksal jener, die leiden?"

Wolf Wondratschek

Die Geschichte „Saint Tropez“ ist insofern autobiographisch, weil der Autor tatsächlich die Wintermonate in der Wohnung seines Freundes in Saint Tropez verbringt. Es beginnt mit einem Spiel, drei Worte auf einen Zettel schreiben, Keimzelle eines späteren Satzes oder einer ganzen Geschichte. Und dann galoppiert der Text haltlos wild, kreuz und quer dahin. Am Ende der Erzählung begegnet der Autor einem Jungen. Dieses Kind geht auf einen Fischer los der einen Oktopus auf einem Stein weich schlägt. Das kleine neunjährige Kind, hoch sensibilisiert, glaubt das der Fischer das Tier quält. Das Bild zeigt eigentlich, wie reagiert man auf dieser Welt, wenn man nicht genug Informationen hat, wenn man nur mit der Seele auf der Welt ist.


Weblink:


Saint Tropez: und andere Erzählungen
von Wolf Wondratschek

»Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« von Marcel Proust


Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Marcel Prousts Hauptwerk »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« (»À la recherche du temps perdu«) in sieben Bänden, dieser monumentale und epochale Roman gilt als eines der bedeutendsten Werke des 20. Jahrhunderts. Es ist eine monumentale Darstellung der Pariser Aristokratie und des Großbürgertums in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.

Von 1905 bis zu seinem Tod im Jahr 1922 verfasste Marcel Proust in den abgedunkelten, stickigen Zimmern seiner Pariser Wohnung mit »À la recherche du temps perdu« (»Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«) eines der größten Werke der Literatur. »Das Leben ist zu kurz und Proust zu lang«, schrieb Anatole France 1913 bei der Veröffentlichung des ersten Bandes von »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« zu einem Zeitpunkt also, als die restlichen sechs Bände noch gar nicht erschienen waren. Niemand, nicht einmal der Autor selbst, ahnte damals, was die quälend lange Suche nach dem Sinn und Wesen der Kunst letzten Endes hervorbringen würde. Nämlich ein literarisches Universum, das nahezu alle philosophischen und psychologischen Fragen seiner Zeit behandelte oder vorwegnahm.

Marcel Proust gilt als Schriftsteller der Moderne, also hat er die Literatur modernisiert und irgendwo in der Litarurlandschaft Neuland betreten. Proust unternahm den damals literarisch neuartigen Versuch, die gesamte menschliche Gesellschaft seiner Zeit in einer gewaltigen Romanfolge, aus dem Blickwinkel der Erinnerungen seines Lebens, darzustellen.

Proust zog sich schon früh in die Welt seiner Erinnerungen zurück. Für den Schriftsteller liegt die Kunst des Schreibens darin, sich seinen Erinnerungen hinzugeben. Diese Erinnerungen tauchen unangekündigt auf und sind flüchtiger Natur.

Proust schrieb einen Roman mit einer zentralen Idee und unterwarf ihr alle Elemente des traditionellen Romans - er revolutionierte ihn damit. Er beschreibt das gesellschaftliche Leben, nicht wie es war, sondern wie es erinnert wird.


Das monumentale Romanwerk ist als fiktive Autobiographie aus der Perspektive des Ich-Erzählers und seinen Erinnerungen geschrieben . Der Erzähler besticht »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« vor allem durch seine präzisen und einfühlsamen Beschreibungen.

In dem Romanwerk geht es um die Subjektivität der Wirklichkeitserfahrung, die Macht des Unbewussten, um Liebe, Eifersucht, Krankheit, Krieg, Homosexualität, Päderastie, Vergänglichkeit und Tod' oder auch nur um die kreative Potenz eines Sandtörtchens. Kaum ein anderer Autor hat mit solcher Besessenheit und Detailtreue sämtliche Winkel der menschlichen Existenz ausgeleuchtet. Das führt zu Längen, bei denen einem schon mal die Luft ausgehen kann. Doch ein Versuch, in Prousts Universum einzutauchen, lohnt sich ' und ist garantiert keine verlorene Zeit.

Während sich die historisch zuerst entstandenen Anfangs- und Schlussteile des Romans hauptsächlich mit dem Thema der Erinnerung befassen, tritt dieses Thema im Mittelteil, etwa ab »Sodom und Gomorrha«, in den Hintergrund zugunsten einer präzisen, immer wieder ironischen Beschreibung der mondän-dekadenten Gesellschaft der Jahrhundertwende.

Der Rückzug aus dem sozialen Leben im Jahr 1905, nach dem Tod der Mutter, in die Einsamkeit im schallisolierten Zimmer am Boulevard Haussmann machten (seit 1908) die Arbeit an dem Roman zum einzigen Inhalt dieser Existenz.

Im März 1922 beendete der Romancier das epochale Werk - nachdem er seine Zeit gefunden hatte - und betrachtete dies als Erfüllung seines Lebens. Damit war auch sein literarisches Leben ausgehaucht. Marcel Proust starb im November 1922 in Paris.

Samstag, 10. Juli 2021

»Eine Straße in Moskau« von Michail Ossorgin


»Eine Straße in Moskau« von Michail Ossorgin ist eine Entdeckung: ein Roman aus dem Jahr 1928, erschienen in der Pariser Emigration und nun neu aus dem Russischen übersetzt. »In einer fremden Stadt entlieh ich den Titel meines ersten großen Romans bei einer der bemerkenswertesten Straßen meiner Heimatstadt« – schrieb Michail Ossorgin, der bereits 1922 auf Lenins Befehl hin die Sowjetunion verlassen musste und es mit diesem Roman zu internationaler Berühmtheit brachte. Die Straße in Moskau heißt »Siwzew Wrazhek«.

Es ist eine kleine Straße im Zentrum von Moskau, doch seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit großer literarischer Tradition: Der junge Tolstoj lebte hier, genauso wie Marina Zwetajewa und Pasternaks »Doktor Schiwago« spielte hier zum Teil. Im Frühjahr 1914, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, beginnt »Eine Straße in Moskau« und endet im Frühlingserwachen des Jahres 1920: Weltkrieg, Revolution und der Kampf zwischen den »Roten« und »Weißen« ist auch durch diese Moskauer Straße gegangen, hat ihre Bewohner zu anderen Menschen gemacht.


Wie durch ein Brennglas werden die epochalen Ereignisse im Mikrokosmos eines Professorenhaushalts um den Ornithologen Iwan Alexandrowitsch und seine Enkelin »Tanjuscha« verwundert betrachtet und zu einem Mosaik aus 86 Bildern und Szenen meisterhaft montiert: ein Film in Prosa, ein dramatisches Personal, unvergessliche Szenen, realistisch direkt oder symbolisch-parabelhaft überhöht. »Eine Straße in Moskau« ist ein Zeitroman und die literarische Chronik eines wiederentdeckten großen russischen Stilisten.

1878 als Spross einer Adelsfamilie in Perm/Ural geboren, wurde Michail Ossorgin (eigentlich Iljin) in der Zeit der revolutionären Unruhen des Jahres 1905 als Sozialrevolutionär verhaftet; er floh ins Ausland und kehrte erst mehr als ein Jahrzehnt später nach Russland zurück. Als Kritiker der Bolschewiki wurde Ossorgin zunächst verbannt, dann 1922 mit einer großen Gruppe Intellektueller auf dem berühmten »Philosophenschiff« außer Landes gebracht. Nach einer Zeit in Berlin ließ er sich in Paris nieder und starb als staatenloser Flüchtling 1942 im zentralfranzösischen Chabris.


Literatur:

Eine Straße in Moskau
Eine Straße in Moskau
von Michail Ossorgin

Samstag, 26. Juni 2021

»Nachtflug« von Antoine de Saint-Exupéry

Antoine de Saint-Exupéry



Nachtflug


Antoine de Saint-Exupéry war ein Pilot aus Leidenschaft. Über das Fliegen kam Antoine de Saint-Exupéry zur Schriftstellerei. Seine Erlebnisse und Erfahrungen als Verantwortlicher für die ersten, trotz aller Gefahren pflichtgemäß durchgeführten Nachtflüge verarbeitete er zu dem Roman »Nachtflug« (1931), der den tödlichen letzten Flug eines Piloten ins Zentrum stellt. Mit diesem Buch gelang dem Flieger der Durchbruch als Autor.

Das Buch wurde mit dem renommierten »Prix femina« ausgezeichnet und brachte ihm den Durchbruch als Autor. -->
In seinem bewegten Leben arbeitete de Saint-Exupéry zumeist als Postflieger - eine Erfahrung, die er auch literarisch verarbeitete. Als Autor versuchte er sich erstmals 1925 mit der Novelle »L’ Aviateur« (»Der Flieger«).

Bereits sechs Jahre später erhielt er mit dem Roman »Vol de nuit« (»Nachtflug«), dessen Handlung um den tödlichen letzten Flug eines Piloten kreist, den renommierten französischen Literaturpreis »Prix femina«.


Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde er eingezogen meldete er sich Pilot bei einem Aufklärungsgeschwader.
Antoine de Saint-Exupéry war ein bekennender Pazifist, für den der Krieg eine Krankheit bedeutete.

»Drei Schwestern« von Anton Tschechow

Drei Schwestern
Drei Schwestern

»Drei Schwestern« von Anton Tschechow ist ein Theaterstück in vier Akten. Es erzählt die Geschichte der drei Schwestern Olga, Mascha und Irina, die gemeinsam mit ihrem Bruder Andrej weitab in der russischen Provinz von der großen Stadt Moskau träumen und darauf hoffen, dorthin zurückzukehren. Der Wunsch scheint zunächst greifbar, rückt aber immer mehr in weite Ferne. Die Geschichte lebt von der Tragik, bringt aber auch zuweilen heitere Untertöne mit.

Als Drama bezeichnet ist das Stück doch eher eine Tragikkomödie. Mit ihm betritt die Provinz die Weltbühne. Wie schön ist doch die Provinz, schwärmen die Städter. Die Sommerfrische. - Und wie ist es mit den Menschen, die dort in der Provimz leben? Sie träumen natürlich von Moskau, den großen Bällen, dem wirklichen Leben.

Das 1900 entstandene Schauspiel »Tri Sestry zeichnet das Leben der drei Schwestern Olga, Mascha und Irina nach, die nach dem Tode des Vaters gemeinsam mit ihrem Bruder Andrej in der russischen Provinz leben. Natascha, die Frau Andrejs, drängt die Schwestern nach und nach aus dem eigenen Hause.

Das Stück beginnt mit Irinas Geburtstag. Die drei Schwestern leben in der Provinz. Sie sind damals mit ihrem Vater aus Moskau hierher gekommen. Ein Jahr nach dessen Tod bleibt die Sehnsucht nach Moskau zu gehen. Ihr Bruder bleibt nach seinem Studium in der Stadtverwaltung hängen.

Der Traum eines wissenschaftlichen Berufs in Moskau bleibt unerfüllt. Die Schwestern können sich mit der Situation nicht abfinden. Dann kommt das Militär in die Stadt und es birgt bei den Schwestern die Hoffnung ein anderes Leben zuführen. Werschinin bringt Mascha auf andere Gedanken. Leider ist sie schon verheiratet und gibt sich einem Trugbild hin.

Er ist wie die Schwestern aus Moskau und die alten Erinnerungen kommen wieder in ihnen hoch. Olga, die Älteste, ist Lehrerin, sie wir später die Schule leiten. In der jüngeren Irina bleibt die Hoffnung nach Moskau zu kehren erhalten. Sie hat mit Tusenbach die Vorstellung von einem Leben, das durch die Arbeit bestimmt ist. Beide leben in ihren öden Leben nur vor sich hin. Der Gedanke an ein anders Leben ist so stark, dass sie in ihrem jetzigen Leben erstarren. Tusenbach kommt am Ende durch ein Duell um. Er und Irina können nicht mehr heiraten. Der Traum ist zerplatzt. Im letzten Akt zieht das Militär ab.

Der Traum vom Leben in Moskau ist ausgeträumt. Irina nimmt sich vor zu arbeiten. Es ist die letzte Hoffnung in ihrem Leben. Die drei Schwestern leben das Bild vor, dass man sich in späteren Zeiten an die Leute erinnern wird, die gelebt haben. Die Melancholie bleibt. Maschas Frage nach dem Sinn im Leben findet keine Erwiderung.

Anton Tschechows »Drei Schwestern« träumen vom Glück und einem erfüllten Leben – tagaus, tagein, jahrelang. Jobs, Männer, nichts funktioniert: »Ich bin schon vierundzwanzig Jahre, ich arbeite schon lange, und mein Hirn ist ausgetrocknet, ich bin mager, hässlich, alt geworden und nichts, nichts, nicht die geringste Befriedigung, und die Zeit vergeht, und immer ist das Gefühl da, du entfernst dich von dem wahren, schönen Leben, du entfernst dich immer weiter und weiter auf einen Abgrund zu.«

Drei Schwestern
Drei Schwestern


Wegen des Todes des eigenen Vaters in die russische Provinz verschlagen, an der Seite eines Bruders, der sich in dieser Umgebung einzurichten versteht, indem er sich neben einer Heirat dem Glücksspiel verschreibt und das Erbe verspielt, bietet die Stationierung eines Regiments in dieser Abgeschiedenheit, die einzige Abwechslung. Doch so trügerisch stabil Tschechows Welten daherkommen, desto schneller stürzen sie ein.

Die große Liebe zieht entweder mit dem Regiment ab, oder wird beim Duell erschossen oder immer nur herbeigesehnt. Die Drei Schwestern von Anton Chechov spiegeln eine Welt, bevor die großen Umwälzungen einsetzen. Fast spürt man einen Hauch von Revolution, die nicht sichtbar ist, doch kommen muß, damit sich etwas ändert. Nur bleiben die Menschen hier so wie sie sind. Olga, Irina, Mascha sind nicht darauf geeicht, ihr Leben zum Einsturz zu bringen. Sie nehmen sich überallhin mit, selbst wenn sie an Ort und Stelle bleiben.

Die drei Schwestern Olga, Mascha, Irina so unterschiedlich Tschechow sie auch zeichnet, so tragen sie alle jene Melancholie in sich, die seine Bühnenfiguren prägen.

Auf der Bühne schafft Tschechow eine sehr emotionale spannende Stimmung, die eine kommende Veränderung vorahnen lässt. Es gibt nicht viel Action. Die Spannung wird hauptsächlich durch Dialoge und Emotionen der Charaktere erzeugt.

Eine Karikatur auf die Langeweile und die Schicht, die sich diese leisten kann,

Literatur:

Drei Schwestern
Drei Schwestern
von Anton Tschechow

Drei Schwestern
Drei Schwestern
von Anton Tschechow

Drei Schwestern
Drei Schwestern
von Anton Tschechow


Blog-Artikel:

- Literatenwelt-Blog - literatenwelt.blogspot.com

Donnerstag, 8. April 2021

»Judas« von Amos Oz

Amos Oz

»Judas« heisst der neue Roman von Amos Oz. Der Roman dreht sich um die universellen Themen Liebe, Religion und Politik, wobei die Religion und die Person Judas viel Raum einnehmen. Im Mittelpunkt steht Judas, der Jesus überredete, nach Jerusalem zu gehen und ihn verriet. Judas zu sein ist ein Wagnis - nicht nur in Israel.

Das Leben des jungen Schmuel Asch ändert sich im Winter 1959 von Grund auf: Seine Freundin verlässt ihn, seine Eltern melden Konkurs an, und er muss sein Universitätsstudium abbrechen. Verzweifelt findet er Unterschlupf und Arbeit in einem alten Jerusalemer Haus als Gesellschafter für einen behinderten, rhetorisch gewandten Mann.

Die drei Protagonisten des Romans wohnen zurückgezogen in dem Steinhaus am Rand der Stadt, und zunächst scheint es, als führten sie ein ruhiges Leben. Im Innern des schüchternen und sensiblen Schmuel bricht ein Sturm los. Die Begierde nach Atalja und seine Neugier wandeln sich langsam in eine verzweifelte Verliebtheit.

Er beginnt wieder sich mit seiner Forschungsarbeit über „Jesus in der Perspektive der Juden“ zu beschäftigen und verliert sich in dem geheimnisvollen Sog, den Judas Ischariot, die Verkörperung des Verrats und der Niedertracht, auf ihn ausübt. Und allmählich entschlüsselt er die Geheimnisse, die in diesem dunklen und einsamen Haus geistern und in die seine Bewohner auf dunkle Art verstrickt sind.


"Die tiefere Bedeutung
von Kultur ist Neugier, die Fähigkeit sich in den anderen hineinzuversetzen."


Amoz Os


Schmuel ist und bleibt Atheist und die Frage wird aufgeworfen, ob man über Religion streiten kann. Oder über die Politik, die in Israel bis zum heutigen Tag ein schwieriges und konfliktgeladenes Thema ist. Wir erfahren einiges aus der Zeit der Staatsgründung Israels. Mit der Zeit falten sich die Lebensläufe der drei Personen auf und wie sie mit der Staatsgründung verbunden sind.

Die Personen drehen sich um sich selbst, als hätten sie, nachdem was ihnen in den Jahren und Jahrzehnten passiert ist, keine Geschichte mehr. Sie stehen still und verkriechen sich in einem Haus, in dem jeder für sich bleibt. Die Zukunft wird ausgeklammert.


Oz stellt dabei große Fragen: Wie wird diese Person in den verschiedenen Religionen dargestellt? Und was war mit Jesus? War er ein Christ oder ein Jude? Diese und viele weitere Punkte besprechen die Herren abends in der Bibliothek.

Für Oz kann jeder zu einem Judas, zu einem Verräter werden. Jeder wird irgendwann zu einem Judas. De Gaulle. Ben Gurion. Abraham Lincoln. Und viele andere. Ist ein Judas ein Verräter oder ein Befreier?

»Wer den Mut hat, sich zu verändern, wird immer von jenen als Verräter bezeichnet werden, die zu keiner Veränderung fähig sind und eine Heiden-Angst vor Veränderungen haben, die Veränderungen nicht verstehen und sie ablehnen…« Veränderungen dürfen nicht abgelehnt werden, sonst bleibt alles stehen und Verhärtungen entstehen. Verhärtungen und Fanatismus ziehen ihre Kreise. Bekenntnisse sind in dieser Zeit wichtig geworden. »Wir alle sind Judas Ischariot.«

In diesem Roman kehrt Amos Oz zum Milieu einiger seiner bekanntesten Bücher wie »Mein Michael« und »Eine Geschichte von Liebe und Finsternis« zurück, in das geteilte Jerusalem der fünfziger Jahre. Die zarte, wilde Liebesgeschichte ist eingebettet in die Landschaft der winterlichen Stadt und in die Ereignisse am Ende der Regierung Ben Gurion.

Gemeinsam mit seinem Protagonisten prüft Oz mutig die Entscheidung, einen Judenstaat zu errichten, samt den Kriegen, die sie zur Folge hatte, und stellt die Frage, ob man einen anderen Weg hätte gehen können, den Weg derer, die als Verräter gelten.

Weblink:

Judas
Judas
von Amos Oz

Rezension Empfehlung:

Judas
Judas
- Rezension

Samstag, 20. Februar 2021

»Arkadien« von Emmanuelle Bayamack-Tam

Arkadien


»Arkadien« ist der neue, am 11. August 2020 erschienene Roman von Emmanuelle Bayamack-Tam.

Die junge Farah, überzeugt, ein Mädchen zu sein, begreift eines Tages, dass ihr Körper nach und nach männlicher wird. Krankhafte Mutation oder sagenhafte Metamorphose? Ihre Eltern haben in einer libertär lebenden Kommune Zuflucht gefunden, deren Mitglieder in der modernen Welt nicht zurechtkommen.

Farah wächst in diesem von riesigen Wald- und Wiesenflächen umgebenen Paradies auf, wo sie mit anderen Kindern erlebt, wie die Erwachsenen mehr schlecht als recht ihre Ideale umsetzen: Absage an gesellschaftliche Normen, Freikörperkultur, freie Liebe und zwar für alle, auch für Alte und Kranke. Das Wunder der Liebe entdeckt Farah mit Arcady, dem spirituellen Oberhaupt dieser bunten Gemeinschaft.

Alles könnte so schön sein wäre nicht ein Migrant in ihr Paradies eingedrungen, der die Kommune in helle Aufregung versetzt. Das Prinzip der universalen Liebe entpuppt sich als Lippenbekenntnis, man will sich hier genauso abriegeln wie in der Außenwelt. Alle, bis auf Farah, die sich jeder Zuschreibung entzieht: Mit ihrer jugendlichen Kühnheit wird sie zum Prüfstein für die Gemeinschaft und entwirft eine Utopie, in der wirklich alle Menschen aufgehoben sind, ungeachtet ihrer nationalen, sozialen oder sexuellen Identität.

Emmanuelle Bayamack-Tam zeichnet mit ihrem preisgekrönten neuen Roman in aller grausam-komischen Schonungslosigkeit ein Porträt unserer Welt und lässt darin sanft das Bild der Unschuld aufleuchten.

Literatur:

Arkadien Arkadien von Emmanuelle Bayamack-Tam

Samstag, 6. Februar 2021

»Bad Regina« - der morbide Charme des Zerfalls


»Bad Regina« ist ein Roman von David Schalko - eine bitterböse und urkomische literarische Fantasie und - wie bei Thomas Manns Roman »Der Zauberberg« eine sehr feinsinnige Zeidiagnose über den Untergang Europas mit realem Hintergrund einer verlassenen Touristenhochburg - einem heruntergekommen Nobelort früherer Tage.

David Schalko erzählt keine Geschichte über die Strukturkrise einer gefallenen Touristenhochburg, sondern eine Parabel auf eine müde Gesellschaft, der die Felle davonschwimmen, auf denen sie es sich bequem gemacht hat.

In »Bad Regina«“ entwirft David Schalko eine faszinierende Geisterwelt, in der nicht nur die Bauwerke, sondern auch die wenigen verbliebenen Bewohner wankende Ruinen der Vergangenheit sind. Ein bitterböser und gleichzeitig urkomischer Roman über ein Europa, das immer und immer wieder moralisch versagt – und über dessen Zukunft nun andere entscheiden.

Nur noch wenige Menschen leben in Bad Regina, einem einst glamourösen Touristenort in den Bergen, starren auf die Ruinen ihres Ortes und schauen sich selbst tatenlos beim Verschwinden zu. Denn ein mysteriöser Chinese namens Chen kauft seit Jahren für horrende Summen ihre Häuser auf – nur um sie anschließend verfallen zu lassen. Als er auch noch das Schloss des uralten örtlichen Adelsgeschlechts erwerben will, entschließt sich Othmar, der von Gicht geplagte ehemalige Betreiber des berühmtesten Party-Clubs der Alpen, herauszufinden, was es mit diesem Chen auf sich hat und was dieser mit Bad Regina vorhat. Dabei erleben Othmar und die verbliebenen Einwohner eine böse Überraschung.

David Schalko erzählt keine Geschichte über die Strukturkrise einer gefallenen Touristenhochburg, sondern eine Parabel auf eine müde Gesellschaft, der die Felle davonschwimmen, auf denen sie es sich bequem gemacht hat.

Schalko hatte beim Schreiben des Romans das verlassene Bad Gastein im Kopf. Der aufkommende Winter-Tourismus nach dem Krieg führte dazu, daß Bad Gastein zu einem verlassenen Ort wurde. Bad Gastein hatte nur Hotels für Sommergäste.

Das schöne "Bad Regina" ist längst nicht mehr, was es einmal war. Touristenströme kamen einst. Heute wohnen weniger als 50 Leute im Ort und nur ein Kind gibt es hier. Ausgerechnet ein Chinese kauft allesim Ort auf was zu haben ist. Und Othmar schaut zu und weiß, dass bald Schluss sein wird in "Bad Regina".

Othmar, der sonderbare Held dieses Abgesangs auf Europa und womöglich eine ganze Epoche und die restlichen Protagonisten, sie jammern mich und sie jammern mich deshalb, weil ich ihr Gejammer nur zu gut aus dem eigenen realen Alltag kenne. Wer kann nicht ein Lied davon singen, dass früher alles besser war.

Eine Geisterstadt im Herzen der Alpen, ein mysteriöser chinesischer Immobilientycoon, der alles aufkauft und verfallen lässt, und 46 Verbliebene, die beschließen, den Kampf aufzunehmen – mit »Bad Regina« ist David Schalko eine brillante literarische Allegorie auf einen sterbenden Kontinent gelungen. Verstörend, grotesk, morbide, komisch – und äußerst spannend.

David Schalko hat ein lesenswertes Buch zur passenden Situation geschrieben. Manchmal wirkt die Story komisch und eigenartig, manchmal gibt es neben allem Weltuntergang gibt es hier auch echte Lebensweisheiten zu lesen.

Literatur:

Bad Regina Bad Regina von David Schalko

Weblink:

"Bad Regina": David Schalkos bitterböser Roman - www.ndr.de

Mittwoch, 20. Januar 2021

»Der arme Spielmann« von Franz Grillparzer

Der arme Spielmann Der arme Spielmann


Franz Grillparzers »Der arme Spielmann« erzählt die Geschichte eines Mannes, dem das Schicksal alles andere als freundlich gesinnt war, der trotz intellektueller Begabung einen sozialen Abstieg erleiden musste. Es erzählt auch von einem tragischen Lebenswandel dieses jungen Mannes und endet dramatisch mit einem unausweichlichen Ende. »Der arme Spielmann« ist eine Geschichte die man gerne erzählt. Sie rührt und erheitert. Und genau dieses Emotionale ist es was sie so besonders macht, denn sie ist mit Herz und aus Erkenntnis geschrieben.

Sie beginnt mit einem Wiener Volksfest auf welchem der einen Straßenmusikanten entdeckt, der seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Anders als seine Konkurrenz spielt er nach Noten und das mit ganzer Leidenschaft. Doch sein Lohn ist gleich null, wobei er schließlich die Aussichtslosigkeit seines Spiels einsieht und auf Lateinisch fluchend von danan zieht. Das Interesse seines Beobachters ist damit allerdings umso mehr angefacht. Er beschließt dem Musikanten zu folgen und herauszufinden was ein derart kultivierter Mann nur als armer Spielmann treibt. Doch der Straßenmusiker weigert sich zunächst und trifft mit dem namenlosen Erzähler eine "geschäftliche" Vereinbarung, denn er will für seine Erzählung bezahlt werden.

Geboren als Sohn eines Wiener Hofrats durchlebte er eine unbeschwerte Kindheit und scheiterte schließlich am Gymnasium. Ein einziges Wort wollte ihm nicht einfallen, dabei legte er immer großen Wert auf sein überragendes Gedächtnis und ist unfähig zu improvieren. Jakob versagt, weil er sich weigert zu akzeptieren, dass er sich etwas nicht merken konnte, dass seine Erinnerung nicht perfekt ist. Und so nimmt ihn sein Vater enttäuscht ob des Versagens seines Sohnes aus der Schule, wobei er ihn stattdessen in einer Schreibstube unterbringt. So sehr Jakob seinen neuen Beruf auch beherrscht, Grund zur Freude hat er wenig, denn nachdem seine Brüder das elterliche Haus verlassen haben, ist er vor allem allein. Sein zutiefst von ihm enttäuschter Vater hält ihn jedoch in der heimischen Enge gefangen. Ein Ausweg scheint sich anzubahnen, als er die Nachbarstochter in bezauberndes Lied summen hört und alles versucht sich dieses zu merken. Nach Jahren greift er nun wieder zur Geige, doch ihm fehlen die Noten, frei spielen kann er nicht. Seine eigene Scheu überwindend, wagt er es, Barbara anzusprechen und um Hilfe zu bitten. Sie willigt ein und verschafft ihm die Noten, wobei sich ihre Beziehung zu entwickeln beginnt. Kurz darauf stirbt der alte Hofrat und dennoch soll das nur der erste Schicksalsschlag für Jakob sein, der seine Mutter schon viel früher verloren hat.

Jakob ist ein interessanter Charakter, einerseits durch sein besonderes Gedächtnis begabt, anderenseits aber auch erschreckend lebensunfähig, ist er doch unfähig mit unvollständiger Erinnerung zu agieren, er braucht Halt, etwas Festes und unabänderliches, woran er sich orientieren kann. Die wortgetreue Wiedergabe und totale Erinnerung ebenso wie die Noten, ohne deren Hilfe er sich nicht im Stande sieht, zu spielen. Sein Spiel, auch wenn es eher schlecht ist, ist an Zwang gebunden, er kann von seinen Prinzipien nicht abweichen.

Dabei ist er noch in Barbara verliebt, wobei sich diese Beziehung schon bald als immer komplizierter entpuppt. Ein gemeinsames Leben ist ihnen nicht vergönnt und auch schafft es Jakob nicht ein zweites Mal über seinen Schatten zu springen und um sie zu werben. Darüber hinaus ist der arme Spielmann auch eine Gesellschaftskritik, denn Jakob sinkt mit der Zeit immer tiefer in seinem sozialen Status, vom Sprössling eines vermögenden Hofrates wird er zum minderen Beamten, bis er schließlich beginnt alles zu verlieren. Je tiefer er fällt, desto bedrückender werden die Schicksalsschläge, bis er dort ist, wo der Erzähler in auffindet, als Bettler auf der Straße, der sich seine Dachstube mit zwei Handwerkern teilen muss.

»Der arme Spielmann« ist eine großartige Geschichte -emotional, tiefgehend, autobiografisch, glaubhaft und einfach schön zu lesen, wenn auch zunächst sprachlich etwas gewöhnungsbedürftig und insgesamt kurz. Eine Mischung aus Autobiografie und Roman verleiht Franz Grillparzers armen Spielmann seinen unvergesslichen Charme. Doch sie zeichnet ein anderes Bild vom Wien des 19. Jahrhunderts, als etwa Arthur Schnitzler und dabei ist Franz Grillparzers Geschichte dennoch zeitlos und für Neuinszenierungen bestens geeignet.


Literatur:

Der arme Spielmann Der arme Spielmann von Franz Grillparzer

Samstag, 14. November 2020

»Straumeni« von Edvarts Virza



Edvarts Virza (1883–1940) schuf mit dem Prosapoem »Straumēni« eine Hymne auf das bäuerliche lettische Leben auf dem Land. Der Schriftsteller beschreibt ein Jahr auf dem zemgalischen Gehöft Straumēni Mitte des 19. Jahrhunderts, verknüpft Kindheitserinnerungen mit Erzählungen seiner Großeltern und folgt dem Takt der Natur.

Nicht ein einzelner Bewohner, sondern der Hof selbst wird zur Hauptfigur des berückenden Buches. Jedes Mitglied der Hausgemeinschaft hat seine zugewiesene Aufgabe zu verrichten, und die Erfüllung birgt eine eigene Schönheit und verleiht Lebenssinn. Die Natur bestimmt das Leben und die Menschen leben im Einklang mit der Natur. Im Einklang mit den Jahreszeiten wird im Frühjahr gepflügt und gesät, im Sommer bewirtschaftet und herangereift, im Herbst geerntet und geschlachtet, schließlich im Winter eingelagert und sich häuslich eingerichtet – und immer auch Feste wie Mittsommer, Erntedank oder Weihnachten gefeiert. Unausgesprochen ist im harmonischen Idealjahr jedoch auch eine Trauernote enthalten, ein Schmerz darüber, dass dieses Ideal unwiederbringlich verloren ist, ja eigentlich niemals bestanden hat.

Die Sprache, in der Virza das voranschreitende Jahr beschreibt, enthält alles, was auf dem Hof vor sich geht. Da summt und raschelt es, knistert, duftet und klingt es in den Wörtern – ein Sprachstrom, der unaufhaltsam voranstrebt wie der Fluss Lielupe, der sich durch die Wiesen um Straumēni schlängelt. Berthold Forssman stimmt in seiner Übersetzung ein in die Melodie der zemgalischen Landschaft und des ländlichen Lebens. Er schöpft aus dem Reichtum der deutschen Sprache, aus Begriffen und Beschreibungen, die schon vergessen scheinen und eine ganze Welt in die Sinne und vor Augen rufen.


Literatur:

Straumeni von Edvarts Virza

Samstag, 31. Oktober 2020

»Herzfaden« von Thomas Hettche

In seinem neuen Roman »Herzfaden« nimmt Thomas Hettche den Erzählfaden des »Augsburger Puppentheaters« auf und erzählt die Geschichte des Puppentheaters von der Entstehung des berühmten Puppentheaters, der Kindheit und dem Aufwachsen in einem weltkriegszerstörten Augsburg. Es ist die Geschichte eines einmaligen Theaters und der Familie, die es gegründet und berühmt gemacht hat.

Diese beginnt im Zweiten Weltkrieg, als Walter Oehmichen, ein Schauspieler des Augsburger Stadttheaters, in der Gefangenschaft einen Puppenschnitzer kennenlernt und für die eigene Familie ein Marionettentheater baut. In der Bombennacht 1944 verbrennt es zu Schutt und Asche. »Herzfaden« erzählt von der Kraft der Fantasie in dunkler Zeit und von der Wiedergeburt dieses Theaters. Nach dem Krieg gibt Walters Tochter Hatü in der Augsburger Puppenkiste Waisenkindern wie dem Urmel und kleinen Helden wie Kalle Wirsch ein Gesicht.

Ein zwölfjähriges Mädchen gerät nach einer Vorstellung der »Augsburger Puppenkiste« durch eine verborgene Tür auf einen märchenhaften Dachboden, auf dem viele Freunde warten: die Prinzessin Li Si, Kater Mikesch, Lukas, der Lokomotivführer. Vor allem aber die Frau, die all diese Marionetten geschnitzt hat und nun ihre Geschichte erzählt. Da ist zunächst ein Mädchen, das vor dem eigenen Vater durch eine Tür flüchtet und dadurch auf einen Speicher gerät. Dort muss es feststellen, dass es auf Puppengröße geschrumpft ist. Das Mädchen findet sich in der Gegenwart ikonisch gewordener Figuren wie etwa dem Urmel oder dem König Kalle Wirsch wieder. Figuren, die das Mädchen trotz ihres jungen Alters immer noch kennt.

Inmitten der geschnitzten Puppen auf dem Speicher tritt eine große Frau auf, die dem Mädchen in der Folge ihre Lebensgeschichte erzählt. Es handelt sich bei der Frau um Hannelore, genannt Hatü, Marschall. Sie ist die Tochter Walter Oehmichens, der zusammen mit ihr das später so bekannte Oehmichens Marionettentheater gründen sollte und in dem sie zur Schöpferin all dieser Figuren wurde, die Hatür und das Mädchen nun umgeben.
Hatü erzählt dem Mädchen von der Entstehung des berühmten Puppentheaters, der Kindheit und dem Aufwachsen in einem weltkriegszerstörten Augsburg. Von den Pogromen, der Armut und dem Leid, das der Krieg mit sich brachte. Davon, wie ihr Vater als Spielleiter des Augsburger Staatstheater zunächst nicht entnazifiert wurde, wie die GIs Augsburg besetzten und wie die Oehmichens alles daran setzten, Ablenkung und Normalität zurück zu den Menschen zu bringen. Von all dem erzählt Hatü dem Mädchen auf dem Speicher, das schon bald dem Charme der Puppen erliegt – aber auch ihre Gefährlichkeit erfährt.

Die Augsburger Puppenkiste wird 70


Als die "Augsburger Puppenkiste" am 26. Februar 1948 Premiere feierte, hatte sich Gründer Walter Oehmichen damit einen lang gehegten Traum erfüllt. Mit seinem abwechslungsreichen Programm entwickelte er das kleine Marionettentheater zu einem Erfolgsprojekt.

Die Erfolgsgeschichte begann mit dem Schauspielerpaar Rose und Walter Oehmichen, das sich in Düsseldorf kennengelernt hatte und wegen eines Bühnenengagements am Stadttheater nach Augsburg gekommen war. Bereits während des Zweiten Weltkrieges gab es einige Aufführungen mit einem Puppentheater. Doch ein großer Teil der Ausstattung wurde 1944 bei Bombenangriffen der Alliierten zerstört.

Nachdem er in seinem letzten Roman »Pfaueninsel« die Erzählperspektive eines kleinwüchsigen Schlossfräuleins wählte, setzt Hettche in seinem neuen Roman das Erzählen aus kleingeratener Sicht fort.

Im Kern steckt in dem Roman »Herzfaden« eine Frage: haben uns Figuren an Fäden, handgeschnitzt aus Holz und mimisch starr, heute noch etwas zu sagen? Heute, da die Ausdrucksmöglichkeiten der perfekt animierte Charaktere in Film und Fernsehen unerschöpflich scheinen, in der es scheinbar keine Grenzen der Darstellungskunst mehr gibt?

Literatur:

Herzfaden Herzfaden: Roman der Augsburger Puppenkiste von Thomas Hettche Weblink:

Die Augsburger Puppenkiste wird 70 - www.augsburger-puppenkiste.de

Blog-Artikel:

Die Augsburger Puppenkiste wird 70

Samstag, 3. Oktober 2020

»Kummer im Westen« von Alexander Kühne


»Kummer im Westen« von Alexander Kühne ist ein stark autografisch gefärbter Roman, der eine Geschichte über einen jungen Mann erzählt, der sein Glück nach dem Mauerfall 1989 sucht und ein tragikomischer Blick auf die ersten Monate nach dem Mauerfall.

Im Osten war Anton ein Szeneheld, der dort mit seinem eigenen Club den Traum von Freiheit lebte. Nun geht er nach der Grenzöffnung mit großen Hoffnungen nach Westberlin. Doch er wird bitter enttäuscht, denn dort wartet niemand auf ihn. So führt ihn sein Weg zurück in die dahinsiechende DDR, zurück nach Düsterbusch. Kann er noch einmal die Szene mobilisieren?

In der Fortsetzung seines Kultromans »Düsterbusch City Lights« wirft Alexander Kühne anhand des Schicksals seines Helden Anton Kummer einen Blick auf die Zeit unmittelbar nach der Wiedervereinigung, in der Millionen Menschen voller Hoffnungen und Sorgen von einem besseren Leben träumten.

. Anton Kummer, aufgewachsen in Düsterbusch, einem Kaff am Rande des Spreewaldes zwischen Cottbus und Berlin, kann endlich seinen Traum wahrmachen und den Westteil Berlins sehen – für ihn die Vision unbegrenzter Möglichkeiten und die Gelegenheit, die wahre Musik seines Herzens zu erleben. Für ein zufällig entdecktes Konzert setzt er auch einen Teil seiner 100 DM Begrüßungsgeld ein.
Und er findet auch bald einen Job für wenig Geld – nämlich die Verteilung eines alternativen Flyers in linken Westberliner Clubs. Doch so ganz entspricht der Westen Berlins auch nicht seinen Träumen. Und so geht es doch zurück nach Düsterbusch. Ein neuer Job – der Vertrieb rechtlich fragwürdiger Bootlegs im ostdeutschen Musikalienhandel - könnte viel Geld bringen – oder auch Ärger.


Literatur:


Kummer im Westen von Alexander Kühne

Donnerstag, 1. Oktober 2020

Hiddensee-Roman »Kruso« von Lutz Seiler

Kruso

An Lutz Seilers erstem und gleich mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnetem Roman »Kruso« scheiden sich die Geister. »Kruso« ist sein erster Roman und zugleich das Werk eines Lyrikers. Ob Meisterwerk oder Langweiler - die Diskussion hat das auf der Ostseeinsel Hiddensee im Wendejahr 1989 spielende Epos jedenfalls tüchtig befeuert, denn »Kruso« ist ein ebenso vielschichtiges wie mehrdeutiges Buch.

Der Roman »Kruso« von Lutz Seiler spielt auf der Insel Hiddensee im Milieu der Saisonarbeiter und gesellschaftlichen Aussteiger zur Zeit des Zusammenbruchs der DDR 1989. Er erzählt die Geschichte der Freundschaft zwischen dem Germanistik-Studenten Edgar Bendler und dem Küchenmitarbeiter Alexey Krusowitsch, genannt »Kruso«, der in der Gemeinschaft der Saisonarbeiter als Autorität anerkannt ist. Beide sind vom Verlust eines ihnen nahe stehenden Menschen traumatisiert.

Die Gaststätte »Zum Klausner« mit großen grünen Garten und Terasse mit Sitzgelgenheiten für die für Tagesausflügler liegt idyllisch am Waldrand und in unmittelbarer Nähe zum Strand von Hiddensee, der nur eiene Steinwurf entfernt istt. Der Pächter sieht die Gaststätte als Schiff und die Angestellten als deren Besatzung an und entsprechend seemännisch fällt seine Wortwahl beim täglichen Appell aus: »Ab in die Wanten!«. Die Angestellten des Klausner sind wie die Mitglieder einer Schiffsbesatzung eine verschworene Gemeinschaft.

Der Romanheld, der psychisch labile, selbstmordgefährdete Germanistik-Studenten Edgar Bendler findet in der Gaststätte »Zum Klausner« eine Anstellung als Abwäscher. Sein charismatischer Mitarbeiter Kruso hat auf der Insel so etwas wie eine Auffangstation für alle Schiffbrüchigen errichtet, womit jene gemeint sind, die auf irgendeine Weise im DDR-Regime angeeckt sind oder das Land verlassen wollen.

»Kruso« entwickelt eine Freiheits-Utopie, in deren Sog der junge Edgar gerät. Gemeinsam kümmern sie sich um die „Schiffbrüchigen“ – all jene, die mit dem Staat abgeschlossen haben oder auf verschiedene Weisen gescheitert sind. Zwischen beiden Männern wächst eine tiefe Freundschaft, die sie fast übersehen lässt, dass rings um sie der Staat zerbricht und immer mehr Gefährten das Land verlassen. Kruso wird darüber krank und Ed übernimmt seine Aufgabe.

Am Ende muß die Gaststätte »Zum Klausner« schließen, das Klausner wird Kiel geholt und Kruso und Ed, die weiterhin dort wohnen und sich durchschlagen, sind ihrem Schicksal überlassen.

Seilers Roman zeichnet sich durch eine hohe sprachliche Genauigkeit aus und verbindet historische Konkretheit mit surrealen Zügen. Im Erscheinungsjahr erhielt der Roman den »Uwe-Johnson-Preis« sowie den Deutschen Buchpreis.

Weblink:

Kruso
Kruso
von Lutz Seiler


Rezension:

Kruso Rezension
Kruso Rezension
von Joachim Weiser

Samstag, 19. September 2020

»Oblomov« von Iwan Gontscharow

Oblomow
Oblomov

»Oblomov« ist ein Roman von Iwan Gontscharow.

Der russische Gutsbesitzer Oblomow verlässt nur ungern seine Liegestatt. Dort empfängt er seine Besucher, dort verbringt er den Tag, dort schmiedet er große Pläne, die er aber nie umsetzt. Der Schlafrock ist sein liebstes Kleidungsstück. Im Nichtstun sieht er seinen Lebensinhalt. Seit 12 Jahren wohnt er bereits in St. Petersburg, seit dem hat er sein Gut nicht mehr besucht. Weil er sich nicht kümmert und weil er bis an die Grenzen des Erträglichen ausgenutzt wird, fallen die Erträge jährlich geringer aus.

Seine Freunde sind, bis auf eine Ausnahme, Schmarotzer, die ihm die Zeit und vor allem sein Geld stehlen. Auch sein Diener Sachar ist Nutznießer von Oblomows Desinteresse und Gleichgültigkeit. Einzig sein Freund aus der Jugendzeit, Andrej Karlowitsch Stolz, schafft es, ihn aus seiner Lethargie herauszureißen. Ist er da, was auch in Oblomows Augen viel zu selten geschieht, verlässt er seine Ruhestätte, er rafft sich auf, die vom Freund empfohlenen Bücher zu lesen und zeigt Interesse an seiner Umwelt. Stolz gelingt es auch, Oblomow mit Olga bekanntzumachen.

Für kurze Zeit kann Oblomow über seinen Schatten springen und die Liebe genießen. Jedoch lassen ihn Selbstzweifel und Unentschlossenheit diese Beziehung beenden und er fällt in stärker denn je in alte Verhaltensmuster zurück.


Ilja Oblomow ist wohl der faulste, trägste, unentschlossenste und apathischste Romanheld der Literatur, aber er ist ein auf seine Art ein liebenswerter Protagonist. Der Begriff der "Oblomowerei" für die Langeweile und den Müßiggang hat auch in den deutschen Wortschatz Einzug gehalten. Als Abkömmling des russischen Landadels steht Oblomow für das feudalistische Althergebrachte, sein Gegenspieler im Roman ist der deutschstämmige Kaufmann Stolz, der den Aufbruch in die neue Zeit verkörpert.

Da Gontscharow seinen Roman logisch und intelligent aufgebaut hat, ist das Ende zwar vorhersehbar, aber nicht in der Vielzahl seiner Details. Hat mir der Roman in seinen ersten drei Teilen schon gut gefallen, war der Schlussteil sozusagen die Krönung für mich.



Zu Beginn des Buches stellte ich mir immer wieder die Frage, wie man so wie unser Held werden kann. Die Beantwortung folgt in "Oblomows Traum", welcher als Erzählung bereits 1848 veröffentlicht wurde. Mit seinem Protagonisten provoziert Gontscharow gekonnt, seine feine Ironie macht das Buch zu etwas Besonderem. Hervorheben möchte ich die wunderbare Charakterisierung der in der Handlung vorkommenden Personen. Alle sind sie fein gezeichnete Individuen, die beim Lesen zum Leben erweckt werden.

Heute, 150 Jahre nach seinem Erscheinen, hat dieser Roman eine ungeheure Aktualität erlangt - allerdings genau als Negation dessen, was Gontscharow aussagen wollte. In der heutigen Zeit mit ihrer Hektik, dem Hetzen von einem Termin zum anderen, dem Zeigen des aktiven Lebens, ist ein wenig Oblomowerei sicher ein gesunder Gegenpol zum geschäftigen Alltagsleben.


Iwan Gontscharow ist der Schöpfer eines Werkes, das sprichwörtlich geworden ist.

Iwan Gontscharow wurde, während er als Beamter im russischen Staatsdienst arbeitete, zum Schriftsteller eines ergreifenden, einfühlsamen Werkes, das die leidenschaftliche, aber letzendlich unglückliche Liebe zwischen Ilja Iljitsch und der etwas jüngeren Olga Sergejewna zum Thema hat. Mit liebevollem Humor erzählt der Autor vom letzten Lebensjahrzehnt des Adligen Oblomow, der in St. Petersburg mit Dienerschaft wohnt, aus dem Beamtendienst ausgeschieden ist und der kaum aus seinem Bett herauskommt, es sei denn zu gutem Essen.

Wie unter einem Vergrößerungsglas präsentiert Gontscharow in Oblomows Traum die einfache dörfliche russische Welt von Oblomowka, dem weit von Petersburg entfernten Herkunftsort des Haupthelden, mit seinen Personen, Geschäften und Speisen, mit seinen Gewohnheiten, seinen Nachlässigkeiten und seinem Aberglauben. Ilja Iljitsch Oblomow, der Gnädige Herr, dessen behütete Kindheit als Gutsbesitzersproß keine Fähigkeit zum Kampf in seiner Seele erzeugt hat, keine Fähigkeit zur Ausdauer, hat dafür einen umso sanfteren, klareren und genügsameren Charakter - eine Schwäche, die von manchem Spitzbuben unter seinen angeblichen Freunden raffiniert ausgenutzt wird.

Auf der anderen Seite steht sein echter Freund aus Kindertagen, Andrej Stolz, väterlicherseits Deutscher, ein vielbeschäftigter Geschäftsmann, der aus ganz anderem Holz geschnitzt ist, und der ein ums andere Mal Ilja aus der Not helfen will, meistens aber an der Trägheit Oblomows scheitert. Olga Sergejewna verbindet die beiden Haupthelden. Stolz, ihr Freund und Ratgeber, macht sie mit dem träge dahinsiechenden Ruheständler bekannt, und der schüchterne Oblomow wird für sie zur ersten großen Herausforderung ihres Lebens. Sein einsames Herz fängt sofort Feuer bei Olga, und auch bei ihr selbst zeigen sich die Symptome des Herzwehs, nachdem sie beobachtete, wie sehr sich ihr Objekt der Neugier und der Beschäftigung zum Subjekt einer, wenn auch unbeständigen Leidenschaft entwickelte.

Doch Ilja Iljitsch hat zuviel Angst vor dem Gerede der Leute, ist zu träge seiner Verantwortung für sein Gut nachzukommen, wird finanziell betrogen; kurz, er hat Angst vor der Zukunft mit Olga, die diesen unsicheren Weg mit ihm schließlich unter Qualen nicht mehr mitgehen kann. Olga erkrankt und wird gerettet von Stolz. Oblomow erkrankt auch und wird gerettet von einer treusorgenden Haushälterin, die für ihn näht und kocht, ihm jeden Wunsch von den Augen abliest, und die langsam, obwohl es ihr selber unbewußt bleibt, liebende Gefühle für den Gnädigen Herrn entwickelt. So ersteht für Oblomow wieder sein geliebtes Oblomowka im Kleinen, in einem heruntergekommenen Haus auf der Wyborger Seite der Newa.

Weitere Personen dieses kleinen St. Petersburger Kaleidoskops sind der griesgrämige Diener Sachar, die schlaue Köchin Anisja, der betrügerische Iwan Matwejew sowie sein Komplize, der ungehobelte, aber gerissene Tarantjew, der nur am Geld Oblomows interessiert ist. Mit seiner psychologischen Tiefe und Seelendeutung, mit seiner sprachlichen Brillanz und Bilderschau, mit seiner gesellschaftlichen Stellungnahme sowie weisen Einsichten in Liebe, Ehe und Familie ist Gontscharows Roman "Oblomow" ein Meilenstein in der Russischen Literatur.

Literatur [ >> ]:

Oblomow
Oblomov
von Iwan Gontscharow

Oblomow
Oblomov
von Iwan Gontscharow

Samstag, 12. September 2020

»Der Nachsommer« von Adalbert Stifter

Der Nachsommer

Der Nachsommer

»Der Nachsommer« mit dem Untertitel »Eine Erzählung (1857)« ist ein zwischen 1847 und 1857 entstandener Roman in drei Bänden von Adalbert Stifter. »Der Nachsommer«, Stifters vielleicht bekannteste Schöpfung, zählt gehört zu den großen Bildungsromanen des 19. Jahrhunderts. Im Stil des Biedermeier erzählt der Entwicklungsroman die Lebens- und Familiengeschichte seines Protagonisten, der im Verlauf des Buches zu einem reifen Mann wird.

Es gibt Romane, die sind wie eine nacherzählte Lebensgeschichte, welche das eigene Leben im milden Licht eines geglückteren Entwurfes erscheinen läßt. Der »Nachsommer« ist eine literarische Annäherung an Adalbert Stifter. Mit seiner durch und durch autobiografischen Grundierung ist das Werk an Stifters Leben entlanggeschrieben und vergegenwärtigt dieses Leben. Es ist der idealisierte Entwurf eines geglückten Lebens und zugleich auch die Korrektur von Stifters eigener Geschichte. Nachdem es das erste und eigentliche Mal ganz anders war, liefert der Autor, der ein Dichter und Träumer war, gewissermaßen die verbesserte Ausgabe. Dieses Mal glückt alles. Also kein vaterloses, gefährdetes Leben, gefolgt von einem lebnslänglichen Chaos wie bie Stifter, sondern eben ein Leben, das man ein glückliches nennen kann.

Ein junger Naturforscher bittet in einem abgelegenen, über und über mit Rosen bedeckten Landhaus um Unterschlupf vor einem drohenden Gewitter. Er wird von dem älteren Hausbesitzer freundlich aufgenommen, kehrt auf seinen Reisen immer wieder dorthin zurück und heiratet schließlich die Ziehtochter seines Gastfreundes. Mit diesen Sätzen wären die knapp 800 Seiten von Stifters „Nachsommer” schon so gut wie vollständig zusammengefasst.

Der Nachsommer
Der Nachsommer

Die Handlung dreht sich um die verschieden gearteten Leben zweier Paare, wobei das jüngere von beiden in Glück und frischer Liebe schwebt, das ältere hingegen durch seine Seelenreife und gemeinsamen Erlebnisse andere Empfindungen der Zufriedenheit verspürt - gewissermaßen einen Nachsommer ihrer Liebe durchlebt. Dabei gelingt es der jungen Beziehung, von den Erfahrungen des älteren Paares zu lernen und zu profitieren.

Zwei liebende Paare stehen im Vordergrund dieses warmherzigen Romans: Das jüngere beschließt nach schüchterner Annäherung schließlich zu heiraten, das ältere erlebt eine späte Liebe »in Glück und Stetigkeit, gleichsam einen Nachsommer ohne vorhergegangenen Sommer.«

Adalbert Stifter

Entschleunigung ist der Schlüssel zu diesem Buch. Wer dieses Tempo nicht annehmen kann oder mag, dem muss »Der Nachsommer« als Krönung der Langeweile erscheinen. Allerdings entgeht diesem Leser dann auch ein Kunstwerk des humanen Entwicklungs- und Bildungsideals, welches eben die Seele des Werkes ist.

Natürlich ist dieses Bildungsideal in der jetzigen Welt, in der Bildung rein marktwirtschaftlich wettbewerblich verstanden wird und nicht die Entfaltung und Entwicklung der eigenen Persönlichkeit zum Zweck hat, so weit außerhalb unseres Radars, dass dieses Buch heute wohl kaum noch die Leser findet, die es verdient.

Der Entwicklungsroman ist an der Biografie seines Autors entlanggeschrieben. Er ist ein idealisierter Gegenentwurf zu seinem tatsächlichen Leben.

»Der Nachsommer« wurde gerade von Schriftstellern bewundert und geliebt. Die Bewunderer Stifters unter den Lesern, die selbst schreiben, sind und waren zahlreich. Schließlich geht es hier um die Sprache als seine Weise der Vergegenwärtigung der Welt.

Stifters Nachsommer ist kein schlechtes Werk, doch ist es wahrlich nur für sehr geduldige Leser geeignet. Ich mag Bildungsromane, die meist durch eine gewissen Stille geprägt sind. So fand ich zum Beispiel Hesses Glasperlenspiel sehr schön. Auch die ersten paar hundert Seiten des Nachsommers fand ich noch ansprechend. Ich mochte die Atmosphäre, die Sanftheit, die Naturbeschreibungen. Aber irgendwann fand ich es einfach zu übertrieben.

Die immer wiederkehrende Beschreibung unwesentlicher Details, die endlosen Monologe über Kunst, Kultur und Politik sowie das vollständige Ausbleiben von Handlungsfortschritten waren mir irgendwann zu viel. Dann begann ich, die Seiten enttäuscht zu überfliegen. Ich hatte den Eindruck, Stifter versuchte hier krampfhaft, seine gesamte Weltsicht en detail in einen Roman zu pressen. So entstand aber ein Missverhältnis zwischen der mangelnden Handlung und dem Übermaß an Darlegung der Weltanschauung.

"Ein Klassiker ist ein Buch, das jeder lobt und niemand liest.", sagte Mark Twain einmal.
Dieses Buch ist ein Klassiker und verdient es, nicht nur gelobt, sondern auch gelesen zu werden.
In der Tat macht es der Autor dem Leser nicht leicht, in erster Linie deswegen, weil man zur Lektüre braucht, was vielen in der heutigen Zeit abgeht, Zeit und Muße. Wie jedes große Kunstwerk erschließt sich das Buch nicht sofort und nicht beim flüchtigen Lesen.

Literatur:

Der Nachsommer


Der Nachsommer von Adalbert Stifter - Gebundene Ausgabe - 1. Januar 2007