Samstag, 22. Oktober 2016

»Widerfahrnis« von Bodo Kirchhoff

Widerfahrnis
Widerfahrnis

»Widerfahrnis« ist eine Anfang September erschienene Novelle von Bodo Kirchhoff.
Der am 6. Juli 1948 geborene deutsche Schriftsteller Bodo Kirchhoff hat als bekennender Italien-Liebhaber auch ein Domizil am Gardasee. Sein neuestes Buch ist eine Novelle über das spontane Glück des Alters in Form einer späten Liebe.

Bodo Kirchhoff hat die Gattung der Novelle gewählt um eine Geschichte zu erzählen, die zwei ältere Menschen auf eine gemeinsame Reise führt, eine Reise, auf der sie die Liebe neu entdecken, aber auch hart und unerbittlich mit dem Leid und dem Schicksal der Flüchtlinge konfrontiert werden, die über das Mittelmeer nach Europa kommen, sich eine bessere Zukunft erhoffend.

Reither, der männliche Protagonist der Novelle, war bis vor kurzem Verleger eines kleinen, aber anspruchsvollen Kleinverlags in einer deutschen Großstadt, aber weil es mittlerweile „mehr Menschen gibt, die schreiben als lesen“ hat er seinen Verlag liquidiert .

Reither hat einen Schlussstrich gezogen. Er hat sich verabschiedet von seinem Verlegerdasein und vom Großstadtleben. Nun lebt er zurückgezogen in einem kleinen Alpental. Dort lernt Leonie Palm kennen, die durchaus ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Leoni kommt eines Sonntagsabends zu Reither, um ihn zur nächsten Sitzung des örtlichen Lesekreises einzuladen.

Sie reden miteinander, rauchen, trinken Wein und verspüren plötzlich die Lust loszufahren, etwas Schönes zu sehen und Neues zu erleben. Erst wollen sie bloß zum Sonnenaufgang bis zum nächsten See, dann aber geht es einfach weiter bis nach Sizilien. Gemeinsam widerfährt ihnen eine spontane Tour von einem Ort zum anderen, bis sie schließlich an der Küste Siziliens landen.

„Was glauben Sie, warum wir in diesem Auto sitzen, Sie und ich, wegen eines Buches? …
Wir sitzen hier wegen Menschen, die es in unserem Leben nicht mehr gibt, oder nie gab, ...“


Drei Tage dauert die Reise. Vielmehr geht es aber um eine innere Reise, bei der die beiden Protagonisten auf ihr Leben zurückblicken und einander nach und nach besser kennenlernen. Einiges eint sie: Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Weder Reither noch Leoni Palm war vom Leben verwöhnt, sowohl beruflich als auch privat. Verluste säumen die Lebenswege der beiden und fordern Lebensmut und die Kunstfertigkeit, mit der gegebenen Lebenssituation umzugehen. Die beiden leben schon eine Weile allein, also müssen sie erneut lernen, sich auf eine andere Person einzulassen, zu vertrauen und die Grenzen ihrer jüngst entstandenen Beziehung auszuloten.


Der Titel der Novelle ist recht passend gewählt, denn Widerfahrnisse gibt es einige in diesem Roman. Das erste ist die Begegnung von Reither und Leonie. Das zweite ist die Begegnung mit dem Flüchtlingsmädchen an einer Straße in Sizlien. Das dritte ist die Aufnahme der ganzen Flüchtlingsfamilie.

»Widerfahrnis« ist ein Roadtrip, andererseits eine Liebesgeschichte eines reifen Paares, aber vor allem ist es eine wunderbar erzählte poetische Novelle, die den Leser an tiefen Gedanken, Fragen und Zweifeln teilhaben lässt. Auch wenn die Unbeschwertheit einer Jugendliebe nicht zum Tragen kommt, verleiht die gemeinsame Reise und das damit einhergehende Sich finden eine gewisse Leichtigkeit. Mit viel Charme und einer angemessenen Portion Selbstironie erzählt Bodo Kirchhoff von Reither und Leonie Palm. Zunächst verbindet beide nur ein gemeinsames Aufgeben und ein Buch.

Langsam, fast vorsichtig entwickelt der Autor die Beziehung zwischen beiden und ermöglicht dem Leser immer tieferen Einblick in die Seele seiner Protagonisten. Diese beiden gehen auf eine Art spontanen Roadtrip, ohne Gepäck, ohne festes Ziel. Dabei macht gerade ihr Alter einen gewissen Reiz aus, denn die beiden haben natürlich schon viel erlebt. Reither ist immer noch in seiner Verleger- und Lektorenrolle fest verankert. Oft beurteilt er eine Situation aus dem wahren Leben danach, ob sie in einem Buch glaubwürdig wäre oder ob er sie gestrichen hätte.

Die beiden Menschen jenseits der Fünfzig sind in ihrem spontanen Glück wie aus der Zeit gefallen, bis ihnen plötzlich "das Weltgeschehen" als Erschrecknis in Gestalt eines Flüchtlingsmädchens begegnet. "Die Liebe ist eine äußerst gefährdete Sache", sagt Bodo Kirchhoff. "Sie braucht die Wahrheit der Welt, um nicht schal zu werden." Mit "Widerfahrnis" hat der Autor ein Buch über die Liebe im Alter geschrieben, die an der Begegnung mit den Realitäten der Gegenwart scheitert und doch die Möglichkeit zum Neubeginn in sich trägt.

Der Entschluß, das Mädchen auf der Reise mitzunehmen, erweist sich als fatal und die Vorstellung vom Familienglück als Illusion. Vier Tage braucht Kirchhoff, um diesen Traum vom Glück zu zerstören und gleichzeitig die Chance zu einem Neuanfang zu geben.


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