Marcel Reich-Ranicki war angetreten, den Deutschen ihre Literatur näherzubringen - den Deutschen, die ihn einst verfolgt hatten. Als Reich-Ranicki, kaum neun Jahre alt, aus seiner polnischen Geburtsstadt Wloclawek an der Weichsel nach Berlin übersiedelte, verabschiedete ihn seine Lehrerin mit den Worten: „Du fährst, mein Sohn, in das Land der Kultur.“ Doch das Land der Kultur stellt sich schon dem Kind nicht ohne düstere Seiten dar.
Als Jude wurde er von den Nationalsozialisten verfolgt und überlebte erst das Warschauer Ghetto und später die Deportation nur wie durch ein Wunder. Ein polnischer Schriftsetzer versteckte Reich-Ranicki und seine Ehefrau damals vor den Nazis. Im Gegenzug unterhielt der Literaturliebhaber seinen Retter mit Dramen von Shakespeare, Schiller und Goethe. Spannend erzählen, um zu überleben: das hat den späteren Kritiker geprägt.
Marcel Reich-Ranicki war Deutscher und Pole, aber er fand lange keine Heimat, weil er Jude war. Als heimatloser Jude war er immer ein Wanderer zwischen den Welten. Dass er schließlich nach langen Irrungen und Wirrungen doch eine Heimat fand, hat er der Literatur - der deutschen zumal - zu verdanken.
""Es ist eher angebracht, einen Autor zu kränken,
als Hunderttausende von Lesern zu betrügen."
sagte Reich-Ranicki über seinen Beruf
Schon während seiner Schulzeit im Berlin der dreißiger Jahre las er begeistert die großen Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts. Es handelte sich um Autoren, die im Dritten Reich verboten oder zumindest unwillkommen waren. Ihre Bücher hatten den Reiz, den man verbotenen Früchten nachsagen kann. Zu diesem Reiz gesellte sich bald noch ein anderer Reiz - der der Modernität.
Er hat es damals schon gepürt, daß mit den frühen Büchern Schnitzlers, Thomas Manns und Robert Musils und der noch vor dem Ersten Weltkrieg folgenden Prosa Döblins und Kafkas eine neue Epoche der deutsche Literatur begonnen hatte. Der Einzug der Moderne in der Literatur begründete eine neue Epoche sollte für den jungen Reich-Ranicki zu einem Wegweiser und inneren Kompass werden.
Die Schriftsteller der Moderne waren seine Wegbereiter und sollten zu seinen Wegbegleitern werden. Auf allen Etappen seines bewegten Lebens ist er zu ihnen zurückgekehrt. Sie bildeten das Fundament, auf dem sich sein literarisches Urteilsvermögen gründete.
Marcel Reich-Ranickiist abgetreten. Mit ihm ist auch eine Epoche zu Ende gegangen. Richtig deuten können wird man lange nicht, was das für eine Epoche war. Mehr jedenfalls als das „Literarische Quartett“ und F.A.Z. und Gruppe 47 und deutsche Nachkriegsliteratur. Dieser Mann war in Verfolgung und Ruhm die Personifikation des zwanzigsten Jahrhunderts.
Weblinks:
Ein sehr großer Mann - Nachruf auf Marcel Reich-Ranicki - F.A.Z. www.faz.net
Der Literaturpapst - Deutsche Welle Portrait www.dw.de
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