Samstag, 19. September 2020

»Oblomov« von Iwan Gontscharow

Oblomow
Oblomov

»Oblomov« ist ein Roman von Iwan Gontscharow.

Der russische Gutsbesitzer Oblomow verlässt nur ungern seine Liegestatt. Dort empfängt er seine Besucher, dort verbringt er den Tag, dort schmiedet er große Pläne, die er aber nie umsetzt. Der Schlafrock ist sein liebstes Kleidungsstück. Im Nichtstun sieht er seinen Lebensinhalt. Seit 12 Jahren wohnt er bereits in St. Petersburg, seit dem hat er sein Gut nicht mehr besucht. Weil er sich nicht kümmert und weil er bis an die Grenzen des Erträglichen ausgenutzt wird, fallen die Erträge jährlich geringer aus.

Seine Freunde sind, bis auf eine Ausnahme, Schmarotzer, die ihm die Zeit und vor allem sein Geld stehlen. Auch sein Diener Sachar ist Nutznießer von Oblomows Desinteresse und Gleichgültigkeit. Einzig sein Freund aus der Jugendzeit, Andrej Karlowitsch Stolz, schafft es, ihn aus seiner Lethargie herauszureißen. Ist er da, was auch in Oblomows Augen viel zu selten geschieht, verlässt er seine Ruhestätte, er rafft sich auf, die vom Freund empfohlenen Bücher zu lesen und zeigt Interesse an seiner Umwelt. Stolz gelingt es auch, Oblomow mit Olga bekanntzumachen.

Für kurze Zeit kann Oblomow über seinen Schatten springen und die Liebe genießen. Jedoch lassen ihn Selbstzweifel und Unentschlossenheit diese Beziehung beenden und er fällt in stärker denn je in alte Verhaltensmuster zurück.


Ilja Oblomow ist wohl der faulste, trägste, unentschlossenste und apathischste Romanheld der Literatur, aber er ist ein auf seine Art ein liebenswerter Protagonist. Der Begriff der "Oblomowerei" für die Langeweile und den Müßiggang hat auch in den deutschen Wortschatz Einzug gehalten. Als Abkömmling des russischen Landadels steht Oblomow für das feudalistische Althergebrachte, sein Gegenspieler im Roman ist der deutschstämmige Kaufmann Stolz, der den Aufbruch in die neue Zeit verkörpert.

Da Gontscharow seinen Roman logisch und intelligent aufgebaut hat, ist das Ende zwar vorhersehbar, aber nicht in der Vielzahl seiner Details. Hat mir der Roman in seinen ersten drei Teilen schon gut gefallen, war der Schlussteil sozusagen die Krönung für mich.



Zu Beginn des Buches stellte ich mir immer wieder die Frage, wie man so wie unser Held werden kann. Die Beantwortung folgt in "Oblomows Traum", welcher als Erzählung bereits 1848 veröffentlicht wurde. Mit seinem Protagonisten provoziert Gontscharow gekonnt, seine feine Ironie macht das Buch zu etwas Besonderem. Hervorheben möchte ich die wunderbare Charakterisierung der in der Handlung vorkommenden Personen. Alle sind sie fein gezeichnete Individuen, die beim Lesen zum Leben erweckt werden.

Heute, 150 Jahre nach seinem Erscheinen, hat dieser Roman eine ungeheure Aktualität erlangt - allerdings genau als Negation dessen, was Gontscharow aussagen wollte. In der heutigen Zeit mit ihrer Hektik, dem Hetzen von einem Termin zum anderen, dem Zeigen des aktiven Lebens, ist ein wenig Oblomowerei sicher ein gesunder Gegenpol zum geschäftigen Alltagsleben.


Iwan Gontscharow ist der Schöpfer eines Werkes, das sprichwörtlich geworden ist.

Iwan Gontscharow wurde, während er als Beamter im russischen Staatsdienst arbeitete, zum Schriftsteller eines ergreifenden, einfühlsamen Werkes, das die leidenschaftliche, aber letzendlich unglückliche Liebe zwischen Ilja Iljitsch und der etwas jüngeren Olga Sergejewna zum Thema hat. Mit liebevollem Humor erzählt der Autor vom letzten Lebensjahrzehnt des Adligen Oblomow, der in St. Petersburg mit Dienerschaft wohnt, aus dem Beamtendienst ausgeschieden ist und der kaum aus seinem Bett herauskommt, es sei denn zu gutem Essen.

Wie unter einem Vergrößerungsglas präsentiert Gontscharow in Oblomows Traum die einfache dörfliche russische Welt von Oblomowka, dem weit von Petersburg entfernten Herkunftsort des Haupthelden, mit seinen Personen, Geschäften und Speisen, mit seinen Gewohnheiten, seinen Nachlässigkeiten und seinem Aberglauben. Ilja Iljitsch Oblomow, der Gnädige Herr, dessen behütete Kindheit als Gutsbesitzersproß keine Fähigkeit zum Kampf in seiner Seele erzeugt hat, keine Fähigkeit zur Ausdauer, hat dafür einen umso sanfteren, klareren und genügsameren Charakter - eine Schwäche, die von manchem Spitzbuben unter seinen angeblichen Freunden raffiniert ausgenutzt wird.

Auf der anderen Seite steht sein echter Freund aus Kindertagen, Andrej Stolz, väterlicherseits Deutscher, ein vielbeschäftigter Geschäftsmann, der aus ganz anderem Holz geschnitzt ist, und der ein ums andere Mal Ilja aus der Not helfen will, meistens aber an der Trägheit Oblomows scheitert. Olga Sergejewna verbindet die beiden Haupthelden. Stolz, ihr Freund und Ratgeber, macht sie mit dem träge dahinsiechenden Ruheständler bekannt, und der schüchterne Oblomow wird für sie zur ersten großen Herausforderung ihres Lebens. Sein einsames Herz fängt sofort Feuer bei Olga, und auch bei ihr selbst zeigen sich die Symptome des Herzwehs, nachdem sie beobachtete, wie sehr sich ihr Objekt der Neugier und der Beschäftigung zum Subjekt einer, wenn auch unbeständigen Leidenschaft entwickelte.

Doch Ilja Iljitsch hat zuviel Angst vor dem Gerede der Leute, ist zu träge seiner Verantwortung für sein Gut nachzukommen, wird finanziell betrogen; kurz, er hat Angst vor der Zukunft mit Olga, die diesen unsicheren Weg mit ihm schließlich unter Qualen nicht mehr mitgehen kann. Olga erkrankt und wird gerettet von Stolz. Oblomow erkrankt auch und wird gerettet von einer treusorgenden Haushälterin, die für ihn näht und kocht, ihm jeden Wunsch von den Augen abliest, und die langsam, obwohl es ihr selber unbewußt bleibt, liebende Gefühle für den Gnädigen Herrn entwickelt. So ersteht für Oblomow wieder sein geliebtes Oblomowka im Kleinen, in einem heruntergekommenen Haus auf der Wyborger Seite der Newa.

Weitere Personen dieses kleinen St. Petersburger Kaleidoskops sind der griesgrämige Diener Sachar, die schlaue Köchin Anisja, der betrügerische Iwan Matwejew sowie sein Komplize, der ungehobelte, aber gerissene Tarantjew, der nur am Geld Oblomows interessiert ist. Mit seiner psychologischen Tiefe und Seelendeutung, mit seiner sprachlichen Brillanz und Bilderschau, mit seiner gesellschaftlichen Stellungnahme sowie weisen Einsichten in Liebe, Ehe und Familie ist Gontscharows Roman "Oblomow" ein Meilenstein in der Russischen Literatur.

Literatur [ >> ]:

Oblomow
Oblomov
von Iwan Gontscharow

Oblomow
Oblomov
von Iwan Gontscharow

Sonntag, 13. September 2020

Walter Benjamin 80. Todestag

Walter Benjamin


Walter Benjamin starb vor 80 Jahren am 26. September 1940 in den nordspanischen Grenzort Portbou auf der Flucht vermutlich durch Suizid. Walter Benjamin war ein bedeutender deutscher Philosoph, Literaturkritiker und Übersetzer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Als Philosoph, Kunsttheoretiker sowie Gesellschafts- und Literaturkritiker machte sich Benjamin bald einen Namen, wobei es die „jüdischen Themen“ Sprache und Zeit waren, die seine Werke trugen. Seine Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ zählen wohl zu den provokantesten und meist missverstandenen Texten zur Geschichtsphilosophie.

Walter Benjamin hinterlässt einen großes philosophisches Werk, indem er versuchte, rationale Wissenschaft, linke Politik und Mystik zu verbinden. Seine jüdischen Wurzeln führten ihn früh zur Kabbala.

Walter Benjamin lebte von 1920 bis 1933 als freier Schriftsteller in Berlin.

Nach dem Abitur 1912 studierte er Philosophie, deutsche Literatur und Psychologie in Freiburg im Breisgau, München und Berlin.

1921 erschien eine Übersetzung von Baudelaire-Gedichten, der er seinen selbstbewussten Aufsatz »Die Aufgabe des Übersetzers« vorwegstellt.

Walter Benjamin


Seine 1921 erschienene philosophische Schrift »Zur Kritik der Gewalt« beeinflusste viele bedeutende Denker. Nachdem sein Versuch, eine Zeitschrift mit dem Titel »Angelus Novus«, der auf ein Bild Paul Klees zurückging, herauszugeben, gescheitert war, versuchte er 1923/24, in Frankfurt am Main die philosophische oder germanistische Habilitation zu erlangen.

Er lernte hier Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer kennen. Seine Habilitationsschrift »Ursprung des deutschen Trauerspiels« erwies sich jedoch als zu unorthodox für den akademischen Betrieb und so zog er sein Habilitationsgesuch 1925 zurück.

1926 und 1927 hielt Benjamin sich jeweils einen großen Teil des Jahres in Paris auf, wo er, teilweise gemeinsam mit Franz Hessel, an der Übersetzung der Werke von Marcel Proust arbeitete und als Publizist tätig war.

Sein Interesse für den Kommunismus führte Benjamin für mehrere Monate nach Moskau. Zu Beginn der 1930er Jahre verfolgte Benjamin gemeinsam mit Bertolt Brecht publizistische Pläne und arbeitete für den Rundfunk.

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten zwang Benjamin, im März 1933 ins Exil nach Paris zu gehen. Als Mitarbeiter des nach New York emigrierten Instituts für Sozialforschung ermöglichte Max Horkheimer ihm ein bescheidenes Überleben.

Am Tag vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in Paris verließ Benjamin die Stadt und begab sich nach Lourdes. Von hier reiste er zunächst weiter nach Marseille, bevor er im September 1940 vergeblich versuchte, nach Spanien zu flüchten. Im Grenzort Portbou, wo er mit der Auslieferung an die Deutschen bedroht wurde, nahm er sich am 26. September durch Morphium das Leben.

Er war eng befreundet mit Gershom Scholem, Ernst Bloch, Bertolt Brecht, Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und vielen anderen heute bekannten Philosophen und Schriftsteller.

Walter Benjamin wurde am 15. Juli 1892 in Berlin geboren.

Weblinks:

Internationale Walter Benjamin Gesellschaft - www.walter-benjamin.org

Der Philosoph Walter Benjamin - www.wbenjamin.de

Der Philosoph Walter Benjamin – Die Schatten des Fortschritts - www.swr.de


Literatur:

Denkbilder


Denkbilder von Walter Benjamin

Sprache und Geschichte. Philosophische Essays.


Sprache und
Geschichte. Philosophische Essays.


Kritiken und Rezensionen


Kritiken und
Rezensionen

Samstag, 12. September 2020

»Der Nachsommer« von Adalbert Stifter

Der Nachsommer

Der Nachsommer

»Der Nachsommer« mit dem Untertitel »Eine Erzählung (1857)« ist ein zwischen 1847 und 1857 entstandener Roman in drei Bänden von Adalbert Stifter. »Der Nachsommer«, Stifters vielleicht bekannteste Schöpfung, zählt gehört zu den großen Bildungsromanen des 19. Jahrhunderts. Im Stil des Biedermeier erzählt der Entwicklungsroman die Lebens- und Familiengeschichte seines Protagonisten, der im Verlauf des Buches zu einem reifen Mann wird.

Es gibt Romane, die sind wie eine nacherzählte Lebensgeschichte, welche das eigene Leben im milden Licht eines geglückteren Entwurfes erscheinen läßt. Der »Nachsommer« ist eine literarische Annäherung an Adalbert Stifter. Mit seiner durch und durch autobiografischen Grundierung ist das Werk an Stifters Leben entlanggeschrieben und vergegenwärtigt dieses Leben. Es ist der idealisierte Entwurf eines geglückten Lebens und zugleich auch die Korrektur von Stifters eigener Geschichte. Nachdem es das erste und eigentliche Mal ganz anders war, liefert der Autor, der ein Dichter und Träumer war, gewissermaßen die verbesserte Ausgabe. Dieses Mal glückt alles. Also kein vaterloses, gefährdetes Leben, gefolgt von einem lebnslänglichen Chaos wie bie Stifter, sondern eben ein Leben, das man ein glückliches nennen kann.

Ein junger Naturforscher bittet in einem abgelegenen, über und über mit Rosen bedeckten Landhaus um Unterschlupf vor einem drohenden Gewitter. Er wird von dem älteren Hausbesitzer freundlich aufgenommen, kehrt auf seinen Reisen immer wieder dorthin zurück und heiratet schließlich die Ziehtochter seines Gastfreundes. Mit diesen Sätzen wären die knapp 800 Seiten von Stifters „Nachsommer” schon so gut wie vollständig zusammengefasst.

Der Nachsommer
Der Nachsommer

Die Handlung dreht sich um die verschieden gearteten Leben zweier Paare, wobei das jüngere von beiden in Glück und frischer Liebe schwebt, das ältere hingegen durch seine Seelenreife und gemeinsamen Erlebnisse andere Empfindungen der Zufriedenheit verspürt - gewissermaßen einen Nachsommer ihrer Liebe durchlebt. Dabei gelingt es der jungen Beziehung, von den Erfahrungen des älteren Paares zu lernen und zu profitieren.

Zwei liebende Paare stehen im Vordergrund dieses warmherzigen Romans: Das jüngere beschließt nach schüchterner Annäherung schließlich zu heiraten, das ältere erlebt eine späte Liebe »in Glück und Stetigkeit, gleichsam einen Nachsommer ohne vorhergegangenen Sommer.«

Adalbert Stifter

Entschleunigung ist der Schlüssel zu diesem Buch. Wer dieses Tempo nicht annehmen kann oder mag, dem muss »Der Nachsommer« als Krönung der Langeweile erscheinen. Allerdings entgeht diesem Leser dann auch ein Kunstwerk des humanen Entwicklungs- und Bildungsideals, welches eben die Seele des Werkes ist.

Natürlich ist dieses Bildungsideal in der jetzigen Welt, in der Bildung rein marktwirtschaftlich wettbewerblich verstanden wird und nicht die Entfaltung und Entwicklung der eigenen Persönlichkeit zum Zweck hat, so weit außerhalb unseres Radars, dass dieses Buch heute wohl kaum noch die Leser findet, die es verdient.

Der Entwicklungsroman ist an der Biografie seines Autors entlanggeschrieben. Er ist ein idealisierter Gegenentwurf zu seinem tatsächlichen Leben.

»Der Nachsommer« wurde gerade von Schriftstellern bewundert und geliebt. Die Bewunderer Stifters unter den Lesern, die selbst schreiben, sind und waren zahlreich. Schließlich geht es hier um die Sprache als seine Weise der Vergegenwärtigung der Welt.

Stifters Nachsommer ist kein schlechtes Werk, doch ist es wahrlich nur für sehr geduldige Leser geeignet. Ich mag Bildungsromane, die meist durch eine gewissen Stille geprägt sind. So fand ich zum Beispiel Hesses Glasperlenspiel sehr schön. Auch die ersten paar hundert Seiten des Nachsommers fand ich noch ansprechend. Ich mochte die Atmosphäre, die Sanftheit, die Naturbeschreibungen. Aber irgendwann fand ich es einfach zu übertrieben.

Die immer wiederkehrende Beschreibung unwesentlicher Details, die endlosen Monologe über Kunst, Kultur und Politik sowie das vollständige Ausbleiben von Handlungsfortschritten waren mir irgendwann zu viel. Dann begann ich, die Seiten enttäuscht zu überfliegen. Ich hatte den Eindruck, Stifter versuchte hier krampfhaft, seine gesamte Weltsicht en detail in einen Roman zu pressen. So entstand aber ein Missverhältnis zwischen der mangelnden Handlung und dem Übermaß an Darlegung der Weltanschauung.

"Ein Klassiker ist ein Buch, das jeder lobt und niemand liest.", sagte Mark Twain einmal.
Dieses Buch ist ein Klassiker und verdient es, nicht nur gelobt, sondern auch gelesen zu werden.
In der Tat macht es der Autor dem Leser nicht leicht, in erster Linie deswegen, weil man zur Lektüre braucht, was vielen in der heutigen Zeit abgeht, Zeit und Muße. Wie jedes große Kunstwerk erschließt sich das Buch nicht sofort und nicht beim flüchtigen Lesen.

Literatur:

Der Nachsommer


Der Nachsommer von Adalbert Stifter - Gebundene Ausgabe - 1. Januar 2007

»Nacht der Seelen« von Karl Ristikivi


»Nacht der Seelen« von Karl Ristikivi


Karl Ristikivi (1912–1977) ist einer von Tausenden Esten, die 1944 vor den Sowjets in den Westen flohen. Bis zu seinem Tod lebte er in Stockholm. »Die Nacht der Seelen« erschien 1953, ein existenzialistischer Exilroman mit surrealistischen Zügen, der seine persönliche Lebenssituation aufgreift.

Der Ich-Erzähler, Ristikivis alter Ego, betritt in der Silvesternacht ein offenstehendes Haus aus Neugier und in der Erwartung, dort Gesellschaft und Unterhaltung zu finden. Schnell wird aber klar, dass der Weg immer tiefer in das Haus hinein auch ein Weg in das eigene Innere, in die eigene Geschichte ist. Plötzlich fällt der Strom aus – es muss ein Verbrechen passiert sein. Der Prozess, der anschließend abgehalten wird, fokussiert aber gar nicht so sehr das mögliche Verbrechen, sondern richtet den Blick vielmehr auf das Menschenleben an sich und die Verfehlungen des Ich-Erzählers im Besonderen.

Meisterhaft versteht es Ristikivi, uns Leser mit Spannung und einer existenziellen Verunsicherung wie den Protagonisten immer tiefer in das Buch hineinzuführen. Von Raum zu Raum, von Szenerie zu Szenerie, von Begegnung zu Begegnung wandeln wir durch das rätselhafte Haus und kommen doch nur bei uns selbst an. »Die Nacht der Seelen« ist ein widerspenstiger und tiefgreifender Roman über eine existenzielle Einsamkeit, aber auch ein Buch über das Schreiben, die Kunst und über die Schöpfungskraft der Phantasie. Maximilian Murmanns Übersetzung legt mit klarer und präziser Sprache den Blick auf einen Text frei, der alles zeigt und freimütig erzählt und der uns Leser dennoch wie ein scharfkantig funkelnder Spiegel auf uns selbst zurückwirft.

Karl Ristikivis Roman »Die Nacht der Seelen« beginnt ganz sachlich. Der allein lebende Erzähler hält es am Silvesterabend zu Hause nicht aus und macht einen Spaziergang. Die fröhlichen Menschen auf den Straßen erscheinen ihm fremd. Schon nach wenigen Abschnitten wird die Stimmung aber düster, der Mann wird von Ängsten und Fantasien geplagt. Ohne konkreten Anlass spürt er, nicht hierher zu gehören:

„Ich fühlte mich wie ein Verbrecher auf der Flucht, der jeden Moment befürchtet, gefasst zu werden. Die Verachtung und der Hass, die mir entgegenschlugen wie ein eisiger Wind im Gesicht, bekamen eine persönliche Färbung. Sie wirkten sogar gerechtfertigt. Ich konnte mich moralisch in keiner Weise verteidigen. Schließlich hatte ich kein Recht, mich hier zu bewegen. Der Raum, den ich mit meinem profanen Körper ausfüllte, war eigentlich für andere bestimmt. Ich war ein Fremder, ein ungebetener Gast.“

Die Fremdheit des Exilanten ist ein Kernthema dieses Romans. Anders als etwa bei Konrad Merz’ „Ein Mensch fällt aus Deutschland“, dem ersten deutschen Roman, der 1936 das Exil selbst zum Thema machte, geht es hier nicht um die Kälte der Mehrheitsgesellschaft und eine hartherzige Bürokratie. Das Gefühl der Fremdheit ist selbst erzeugt.

Literatur:

Die Nacht der Seelen von Karl Ristikivi

Weblink:

Karl Ristikivi: „Nacht der Seelen“ - Der Franz Kafka aus Estland

Sonntag, 6. September 2020

"Über allen Gipfeln ist Ruh …" – Goethes Gedicht wird 240 Jahre alt

Kickelhahn

Heute vor 240 Jahren schrieb Johann Wolfgang von Goethe mit Bleistift das Gedicht "Wanderers Nachtlied" an die Holzwand einer Jagdhütte auf dem Kickelhahn bei Ilmenau in Thüringen.

Über allen Gipfeln
Ist Ruh’,
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest du auch.”


Ergriffen vom Abendlicht über dem Thüringer Wald schrieb Goethe am 6. September 1780 auf dem Kickelhahn sechs Verse an eine Hüttenwand am 6. September 1780 sechs Verse, die als »Wanderes Nachtlied« um die Welt gingen.

Goethe, der insgesamt 28-mal in Ilmenau zu Besuch war, wanderte zwischen 1780 und 1831 mehrmals zum Kickelhahn, meist als Begleiter von Herzog Carl August von Sachsen-Weimar.

Wenige Monate vor seinem Tod, am 26. August 1831, fuhr Goethe in Begleitung seiner beiden Enkel Walther und Wolfgang ein letztes Mal nach Ilmenau und besuchte einen Tag später den Kickelhahn.


Weblink:

"Über allen Gipfeln ist Ruh …" – Goethes Gedicht wird 240 Jahre alt - Klassik Stiftung Blog - blog.klassik-stiftung.de

Mittwoch, 2. September 2020

»September« von Hermann Hesse



Der Garten trauert,
Kühl sinkt in die Blumen der Regen.
Der Sommer schauert
Still seinem Ende entgegen.

Golden tropft Blatt um Blatt
Nieder vom hohen Akazienbaum.
Sommer lächelt erstaunt und matt
In den sterbenden Gartentraum.

Lange noch bei den Rosen
Bleibt er stehen, sehnt sich nach Ruh.
Langsam tut er die großen
Müdgewordenen Augen zu.

»September« von Hermann Hesse

Der September ist, lyrisch gesehen, die beste Zeit zum Sterben. Und dieses Gedicht ist ein wunderschönes, gelassenes Einverstandensein mit dem Ende, das bei Hermann Hesse aber doch noch eine Weile ausblieb.


Hermann Hesse-Gedichte:

»Das Lied des Lebens«: Die schönsten Gedichte
»Das Lied des Lebens«:
Die schönsten Gedichte


Sämtliche Gedichte in einem Band
Sämtliche Gedichte in einem Band


Video:

Hermann Hesse "September" - YouTube



Freitag, 28. August 2020

Michael Ende 25. Todestag

Michael Ende

Michael Ende starb vor 25 Jahren am 28. August 1995 in Filderstadt. Michael Ende ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller. Neben Kinder- und Jugendbüchern schrieb er poetische Bilderbuchtexte, Bücher für Erwachsene, Theaterstücke, Gedichte und Essays. Er gilt als der Abenteurer unter den Schriftstellern.

Berühmt wurde Michael Ende durch seine phantasievollen Geschichten von »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer«, das u. a. in der szenischen Darstellung der »Augsburger Puppenkiste« im Fernsehen gezeigt wurde.


Mit eigenen, meist dramatischen Theaterstücken war Ende zunächst erfolglos. Nachdem zwölf Verlage sein Manuskript »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer« abgelehnt hatten, erschien dieses Kinderbuch 1960 im Thienemann Verlag und ist seitdem ein großer Erfolg.

Die Abenteuer von Jim Knopf und Lukas, dem Lokomotivführer sind zeitlos und können wohl Leser jeder Altersklasse begeistern. Michael Ende schrieb phantasievolle, lustige und oft Herz erwärmende Geschichten, bei denen es keine Rolle spielt, ob sie heutzutage noch politisch korrekt sind. Ende lebte einfach zu anderen Zeiten.


Die Romane von Micheal Ende waren die Kinder ein Segen, für Verleger jedoch
nicht literatur- und genregemäß und für Kritiker offensichtlich ein Problem.

Verschiedene Kritiker in Deutschland machten Ende, gerade seines Jim Knopf wegen, Eskapismus zum Vorwurf und warfen ihm vor, mit seinen positiven Märchen die Kinder nicht auf das richtige Leben vorzubereiten. Da verschiedene Kritiker Ende, gerade seines Jim Knopf wegen, „Weltflucht“ vorwarfen und ihn als „Schreiberling für Kinder“ abtaten, ging er 1970 zusammen mit seiner ersten Frau Ingeborg Hoffmann, die er 1964 geheiratet hatte, nach Italien und ließ sich in Genzano di Roma, ca. 30 km südöstlich von Rom, in der Villa Liocorno (Einhorn), nieder.




Im Jahr 1979 schrieb Michael Ende seinen phantastischen Roman »Die unendliche Geschichte«. Das Buch verkaufte sich weltweit etwa zehn Millionen mal und wurde in 40 Sprachen übersetzt.

Die Verfilmungen seiner Romane »Momo« und »Die unendliche Geschichte« trugen zu seiner Bekanntheit bei, wobei Ende sich selbst von der Verfilmung der Unendlichen Geschichte distanzierte, da er mit dieser insgesamt nicht zufrieden war.

Sowohl »Momo« als auch »Die Unendliche Geschichte« thematisieren die Gefahr einer Welt, in der Fantasie und Menschlichkeit im Verschwinden begriffen sind.

Michael Endes Werke wurden in über 40 Sprachen übersetzt und erreichen heute eine Gesamtauflage von über 33 Millionen Exemplaren. Viele seiner Bücher wurden verfilmt und sind auch aus Funk und Fernsehen bekannt.

Buchempfehlungen:

Die unendliche Geschichte
Die unendliche Geschichte
von Michael Ende

Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer
»Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer«
von Michael Ende