Samstag, 21. September 2024

"Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur" von Claudio Magris

Claudio Magris

Mit 24 Jahren veröffentlichte der Triestiner Jung-Germanist 1963 seine auf Italienisch geschriebene Doktorarbeit, die ihre Generalthese bereits im Titel trug: "Il mito absburgico nella letteratura austriaca moderna" (deutsch 1966: "Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur"). Kein Literat hat das Phänomen der Habsburger Monarchie in seiner ganzen Zwiespältigkeit zwischen Sehnsucht, Ablehnung und Spott früher, genauer und scharfsichtiger erkannt als der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2009, Claudio Magris. Auf ca. 361 Seiten wird der habsburgische Mythos der "guten alten Zeit" analysiert, wobei Claudio Magris oft zu dem Schluss kommt, dass sich viele Dichter nur in eine Scheinwelt flüchteten, während die Donaumonarchie unterging.



Diese enthält die bis heute wichtigste und einflussreichste Theorie, die bislang zur österreichischen Literatur entwickelt wurde; sie handelt vom habsburgischen Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Den „habsburgischen Mythos“ konstituieren nach Magris grundsätzlich drei Elemente: Als ersten Teil sieht er die religiös aufgeladene Vorstellung eines im Zeichen einer höheren Idee gegründeten Reiches mit der Überlebenstaktik des defensiven Hinausschiebens und Sichtotlaufenlassens des Konfliktes („Das Fortwursteln, um einen Vielvölkerstaat zusammenzuhalten“).

Claudio Magris

Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur

Das weitere Element bezeichnet die positive bürokratische Mentalität und Qualität der Monarchie. Magris greift dabei auf Hugo von Hofmannsthal, Robert Musil und Franz Werfel beziehungsweise auf das Leitmotiv des „theresianischen Menschen“ zurück und sieht die Donaumonarchie von einer „wenig fühlbaren, alle Spitzen vorsichtig beschneidenden Bürokratie“ verwaltet und bezeichnet als dessen verkörperte unbestechliche Dienstpragmatik den „Workaholic“ Kaiser Franz Joseph.

Als drittes Grundmotiv ortet Magris den Hedonismus der habsburgischen Untertanen zwischen Oper, Theater, Tanzsälen, Wirts- und Kaffeehäusern mit der musikalischen Grundstimmung der Fledermaus. Der Habsburg-Diagnostiker Magris hat mit dem u. a. Grillparzer, Hofmannsthal, Musil, Bernhard, Werfel, Zweig, Roth, Bachmann oder auch die Menasses beeinflussenden „Mythos“ der österreichischen Literatur ein Eigenrecht (weg vom alpenländisch-exotischen Anhängseldenken) in der deutschen Literatur zugebilligt und gegeben.

Magris' Buch ist bis heute die wichtigste, einflussreichste Theorie, die je zur österreichischen Literatur entwickelt wurde: ein Epochenbuch über eine sonderbare Epochenverschleppung, das frisch geblieben ist wie wenige: Die seither erschienene österreichische Belletristik bestätigt ungewollt, wie triftig die damals revolutionären Ansichten des Literatursoziologen immer noch sind.

Anstatt, wie bei deutschen Germanisten üblich, die Werke der Österreicher nur als alpenländisch-exotisches Anhängsel der deutschen Literatur wahrzunehmen, billigt ihnen Magris ein Eigenrecht zu.

Claudio Magris' Buch über den habsburgischen Mythos ist in den vierzig Jahren seit seiner Entstehung selbst zum Mythos geworden, zum "Lebensroman seines Autors", ja zur "Karte seiner geistigen und kulturellen Geographie", wie Magris nun im Vorwort zur Neuauflage schreibt.

In sechs Kapiteln - von der Zeit Maria Theresias über Nestroy und Grillparzer zu Hofmannsthal, Kraus und Musil - zeichnete der damals 20-jährige Triestiner die Geschichte der habsburgischen Kultur nach und versuchte, in der Vielfalt eine "große Linie zu finden". Magris' viel diskutiertes Buch legte damit den Grundstein zu der Wiederentdeckung des k.u.k. Österreich, seiner kulturellen Kontinuitäten und politischen Brüche. Neue, durchgesehene Ausgabe.

Literatur:

Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur
Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur
von Claudio Magris

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen