Mittwoch, 13. Januar 2021

Friedrich Dürrenmatts Schweizbild


Friedrich Dürrenmatt

Der Autor hieße nicht Dürrenmatt, wenn er nicht sein Schweizbild und seine Haltung zur Schweiz in seinem Werk ausbreiten würde. Das Schweizbild setzt sich bei Dürrenmatt aus vielen einzelnen Aspekten zusammen, welche er in seinen Werken einer Kritik unterwirft und dabei folgende Regel befolgt:

»Man soll sich seiner Liebe nicht schämen,
und die Vaterlandsliebe ist immer noch eine gute Liebe,
nur muß sie streng und kritisch sein, sonst wird sie eine Affenliebe.«

Die Schweiz ist eine führende Wirtschaftsnation unter strikter Wahrung der Neutralität, aber mit zweifelhaften Wirtschaftspraktiken. Immer wieder schildert er die Schweiz als Wirtschaftsnation, verwickelt in kriminelle Geschäfte.

»Wer wirtschaftlich so tüchtig mithurt wie die Schweiz,
kann politisch nicht als Jungfrau auftreten.«

Mit »Frank der Fünfte. Oper einer Privatbank« entwarf Dürrenmatt schon 1959 das wüste Bild einer Schweizer Finanzindustrie, die kriminelle Aktivitäten als ihr Kerngeschäft versteht, und auch «Der Besuch der alten Dame», Dürrenmatts erfolgreichstes Bühnenstück, ist eine Parabel der Käuflichkeit voller gemütlichem Lokalkolorit.

Bereits in seinem ersten Welterfolg, »Der Richter und sein Henker«, erschien die Schweiz als schillerndes Zwitterreich aus ländlicher Gemütlichkeit und internationalem, zynisch protegiertem Wirtschaftshub. Dürrenmatts bevorzugte Metapher für den komplexfreien helvetischen Geschäftssinn ist der Waffenhandel oder gleich das internationale Verbrechersyndikat, nicht nur in »Der Richter und sein Henker«, sondern auch in den grossen philosophischen Kriminalromanen des Spätwerks, »Justiz« und »Durcheinandertal«.

Aber Dürrenmatt war auch deshalb besonders hellhörig für die Auswirkungen des Verschontgebliebenseins auf die nationale Psyche, weil es für seinen eigenen Werdegang so entscheidend war. Die Schweiz «war einfach von der Weltgeschichte vergessen worden, dispensiert, sitzen gelassen, als Fossil behandelt — auch das kommt ja vor». So beschreibt Dürrenmatt sein Lebensgefühl in den letzten Kriegsjahren.

»Es war nicht auszumachen, ob sie (die Schweiz) ein Gefängnis war,
eine belagerte Festung oder eine Produktionsstätte für Hitler.«

Die Metapher von der Schweiz als Gefängnis – und ganz allgemein das Labyrinth, das Stollensystem, das Spiegelkabinett als Bild der Verworrenheit und Bedrängnis der menschlichen Existenz – wurde ein Leitmotiv des Dürrenmatt'schen Werks.

Aus dem Gefangensein in der Neutralität wollte Dürrenmatt ausbrechen - und die Schriftstellerei schien ihm dazu der einzige Weg:

»Diese Groteske des Verschontseins stellte mich endlich vor eine Aufgabe:
Die Welt, die ich nicht zu erleben vermochte, wenigstens zu erdenken, der Welt Welten entgegenzusetzen, die Stoffe, die mich nicht fanden, zu erfinden.«

Wie unverständlich Dürrenmatt jedoch bis zuletzt für seine Miteidgenossen geblieben ist, das zeigte der krachende Skandal, mit dem er von der Bühne abtrat. Seine Rede »Die Schweiz – ein Gefängnis«, die er drei Wochen vor seinem Tod zu Ehren von Vadav Havel hielt, wurde ihm vom politischen Establishment derart verübelt, dass der anwesende Alt-Bundesrat Furgler danach den Handschlag verweigert haben soll.

Natürlich war es ein – typisch Dürrenmatt'sches – Bubenstück, ausgerechnet in einer Hommage an Havel, der jahrelang in sehr realen tschechoslowakischen Gefängnissen zugebracht hatte, das Land Schweiz als grosses Gefängnis darzustellen, das sich dadurch auszeichne, dass alle Insassen zugleich ihre eigenen Wärter seien. Die damals brodelnde Fichenaffäre – es gab eine dicke Dürrenmatt-Fiche – dürfte das ihrige dazu beigetragen haben, dass in der Havel-Rede die Schilderung des verwirrlichen Schweizer Gefängnissystems gar nicht mehr aufhören wollte.



Weblinks:

Friedrich Dürrenmatt-Biografie - Biografien-Portal - www.die-biografien.de

Friedrich Dürrenmatt-Zitate - Zitate-Portal - www.die-zitate.de

Dürrenmatts Schweizbild - www.mrkunz.ch

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