Sonntag, 6. September 2020

"Über allen Gipfeln ist Ruh …" – Goethes Gedicht wird 240 Jahre alt

Kickelhahn

Heute vor 240 Jahren schrieb Johann Wolfgang von Goethe mit Bleistift das Gedicht "Wanderers Nachtlied" an die Holzwand einer Jagdhütte auf dem Kickelhahn bei Ilmenau in Thüringen.

Über allen Gipfeln
Ist Ruh’,
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest du auch.”


Ergriffen vom Abendlicht über dem Thüringer Wald schrieb Goethe am 6. September 1780 auf dem Kickelhahn sechs Verse an eine Hüttenwand am 6. September 1780 sechs Verse, die als »Wanderes Nachtlied« um die Welt gingen.

Goethe, der insgesamt 28-mal in Ilmenau zu Besuch war, wanderte zwischen 1780 und 1831 mehrmals zum Kickelhahn, meist als Begleiter von Herzog Carl August von Sachsen-Weimar.

Wenige Monate vor seinem Tod, am 26. August 1831, fuhr Goethe in Begleitung seiner beiden Enkel Walther und Wolfgang ein letztes Mal nach Ilmenau und besuchte einen Tag später den Kickelhahn.


Weblink:

"Über allen Gipfeln ist Ruh …" – Goethes Gedicht wird 240 Jahre alt - Klassik Stiftung Blog - blog.klassik-stiftung.de

Mittwoch, 2. September 2020

»September« von Hermann Hesse



Der Garten trauert,
Kühl sinkt in die Blumen der Regen.
Der Sommer schauert
Still seinem Ende entgegen.

Golden tropft Blatt um Blatt
Nieder vom hohen Akazienbaum.
Sommer lächelt erstaunt und matt
In den sterbenden Gartentraum.

Lange noch bei den Rosen
Bleibt er stehen, sehnt sich nach Ruh.
Langsam tut er die großen
Müdgewordenen Augen zu.

»September« von Hermann Hesse

Der September ist, lyrisch gesehen, die beste Zeit zum Sterben. Und dieses Gedicht ist ein wunderschönes, gelassenes Einverstandensein mit dem Ende, das bei Hermann Hesse aber doch noch eine Weile ausblieb.


Hermann Hesse-Gedichte:

»Das Lied des Lebens«: Die schönsten Gedichte
»Das Lied des Lebens«:
Die schönsten Gedichte


Sämtliche Gedichte in einem Band
Sämtliche Gedichte in einem Band


Video:

Hermann Hesse "September" - YouTube



Freitag, 28. August 2020

Michael Ende 25. Todestag

Michael Ende

Michael Ende starb vor 25 Jahren am 28. August 1995 in Filderstadt. Michael Ende ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller. Neben Kinder- und Jugendbüchern schrieb er poetische Bilderbuchtexte, Bücher für Erwachsene, Theaterstücke, Gedichte und Essays. Er gilt als der Abenteurer unter den Schriftstellern.

Berühmt wurde Michael Ende durch seine phantasievollen Geschichten von »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer«, das u. a. in der szenischen Darstellung der »Augsburger Puppenkiste« im Fernsehen gezeigt wurde.


Mit eigenen, meist dramatischen Theaterstücken war Ende zunächst erfolglos. Nachdem zwölf Verlage sein Manuskript »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer« abgelehnt hatten, erschien dieses Kinderbuch 1960 im Thienemann Verlag und ist seitdem ein großer Erfolg.

Die Abenteuer von Jim Knopf und Lukas, dem Lokomotivführer sind zeitlos und können wohl Leser jeder Altersklasse begeistern. Michael Ende schrieb phantasievolle, lustige und oft Herz erwärmende Geschichten, bei denen es keine Rolle spielt, ob sie heutzutage noch politisch korrekt sind. Ende lebte einfach zu anderen Zeiten.


Die Romane von Micheal Ende waren die Kinder ein Segen, für Verleger jedoch
nicht literatur- und genregemäß und für Kritiker offensichtlich ein Problem.

Verschiedene Kritiker in Deutschland machten Ende, gerade seines Jim Knopf wegen, Eskapismus zum Vorwurf und warfen ihm vor, mit seinen positiven Märchen die Kinder nicht auf das richtige Leben vorzubereiten. Da verschiedene Kritiker Ende, gerade seines Jim Knopf wegen, „Weltflucht“ vorwarfen und ihn als „Schreiberling für Kinder“ abtaten, ging er 1970 zusammen mit seiner ersten Frau Ingeborg Hoffmann, die er 1964 geheiratet hatte, nach Italien und ließ sich in Genzano di Roma, ca. 30 km südöstlich von Rom, in der Villa Liocorno (Einhorn), nieder.




Im Jahr 1979 schrieb Michael Ende seinen phantastischen Roman »Die unendliche Geschichte«. Das Buch verkaufte sich weltweit etwa zehn Millionen mal und wurde in 40 Sprachen übersetzt.

Die Verfilmungen seiner Romane »Momo« und »Die unendliche Geschichte« trugen zu seiner Bekanntheit bei, wobei Ende sich selbst von der Verfilmung der Unendlichen Geschichte distanzierte, da er mit dieser insgesamt nicht zufrieden war.

Sowohl »Momo« als auch »Die Unendliche Geschichte« thematisieren die Gefahr einer Welt, in der Fantasie und Menschlichkeit im Verschwinden begriffen sind.

Michael Endes Werke wurden in über 40 Sprachen übersetzt und erreichen heute eine Gesamtauflage von über 33 Millionen Exemplaren. Viele seiner Bücher wurden verfilmt und sind auch aus Funk und Fernsehen bekannt.

Buchempfehlungen:

Die unendliche Geschichte
Die unendliche Geschichte
von Michael Ende

Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer
»Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer«
von Michael Ende

Samstag, 22. August 2020

»Ein unvergänglicher Sommer« von Isabel Allende


Ein unvergänglicher Sommer: Roman (suhrkamp taschenbuch)


»Ein unvergänglicher Sommer« ist ein im Frühjahr 2018 erschienener Roman von Isabel Allende und erzählt eine Geschichte, die im Einwanderermilieu von Brooklyn spielt.

Ein Schneesturm in Brooklyn, und den Auffahrunfall tut Richard als belanglose Episode ab. Aber kaum ist der eigenbrötlerische Professor zuhause, steht die Fahrerin des anderen Autos vor der Tür. Evelyn ist völlig aufgelöst: In ihrem Kofferraum liegt eine Leiche. Zur Polizei kann sie nicht, denn das scheue guatemaltekische Kindermädchen ist illegal im Land. Richard wendet sich Hilfe suchend an Lucía, seine draufgängerische chilenische Untermieterin, die ebenfalls an der Uni tätig ist. Lucía drängt zu einer beherzten Aktion: Die Leiche muss verschwinden. Hals über Kopf machen sie sich auf den Weg in die nördlichen Wälder, auf eine Reise, die die drei zutiefst verändern wird. Und am Rande dieses Abenteuers entsteht etwas zwischen Richard und Lucía, von dem sie beide längst nicht mehr zu träumen gewagt hatten.

»Nicht die Schwerkraft hält unser Universum im Gleichgewicht, sondern die Liebe.« Isabel Allende erzählt eine Geschichte, wie nur sie es kann, beseelt, humorvoll und lebensklug. Eine Geschichte von Flucht, Verlust und spätem Neuanfang. Und davon, wie viel wir Menschen erleiden können, ohne unsere Hoffnung zu verlieren.

Jede Menge starker Frauen trifft man hier. Manches kam mir dabei sehr autobiographisch vor. Manches erinnerte stellenweise an „Das Geisterhaus“ von Allende, bloß einige Jahrzehnte später. Männer kommen hier insg. weniger gut weg.

Grundlegende, existenzielle Fragen wurden hier gestellt und bildhaft in Szene gesetzt: Was ist Heimat? Was ist ein gutes, glückliches Leben? Was ist eine gute Ehe, eine gute Familie? Mutter-Sohn Beziehung wie Mutter-Tochter Beziehung sind auch eingehend thematisiert worden, und noch vieles mehr.

Paar mystische Elemente sind hier und dort, wie so oft bei Allende, wohl dosiert und passend, auch dabei.

Buchempfehlung:

Ein unvergänglicher Sommer
Ein unvergänglicher Sommer
von Isabel Allende

Sonntag, 16. August 2020

75 Jahre Satire-Roman »Farm der Tiere«

Farm der Tiere


Am 16. August 1945 vor 75 Jahren veröffentlichte George Orwell den als Satire geschriebenen Roman »Farm der Tiere« (»Animal Farm«). Der Abrechnungsroman »Farm der Tiere« ist heute ein moderner Klassiker.

George Orwell hat mit der 1945 veröffentlichten Fabel »Farm der Tiere: Ein Märchen« eine ausgesprochen unterhaltsame Persiflage auf den Sowjetkommunismus geschaffen. Auch knapp 70 Jahre nach seinem Entstehen zählt dieses Werk zu den eindrücklichsten Beschreibungen der Transformation der Sowjetunion von der Oktoberrevolution 1917 bis zum Hitler-Stalin-Pakt des Jahres 1939.

Zu Beginn des Romans vertreiben die unterdrückten Tiere den Bauern vom Hof und übernehmen selber die Macht. Sie genießen ihre neue Freiheit und geben sich eine Verfassung, die mit den Worten »Alle Tiere sind gleich« beginnt.


Auf der Herren-Farm ist es nicht zum Besten bestellt und bei den Tieren herrscht große Unzufriedenheit: Sie werden von dem Farmer ausgebeutet und geschlachtet. Das wollen die Tiere nicht länger hinnehmen und planen unter der Führung der intelligenten Schweine die Revolution: Sie vertreiben den Farmer und gründen einen Staat: "Farm der Tiere". Dieser Staat hat fünf Gesetze, die dafür sorgen sollen, dass keine Tier benachteiligt wird oder jemals mit Menschen zu tun haben soll.

Der "Revolutionsführer" Napoleon ist ein Schwein, welches zunächst diese positiven Regeln propagiert. Doch nach einiger Zeit wächst die Macht von Napoleon und er errichtet eine Diktatur. Hunde sind seine Leibgarde, Tauben seine Spione, Schafe seine dummen Gefolgsleute und Schwatzwutz - ebenfalls ein Schwein - sein Propagandist. Die freiheitlichen Gesetze werden nach und nach geändert und außer Kraft gesetzt. Die freiheitliche Hymne wird verboten. Wer nicht für Napoleon ist, ist gegen ihn. Und so kommt es, dass Napoleon mit den benachbarten Farmern paktiert, selbst wie ein Mensch wird und alle Tiere der Herren-Farm ausbeutet. Es hat sich nichts geändert.

Die Utopie der Tiere wandelt sich jedoch in ein despotisches Regime, als die Schweine die Macht auf dem Hofan sich reißen und die anderen Tiere unterdrücken.

Farm der Tiere

Der dystopische Abrechnungsroman beschreibt das Scheitern der russischen Revolution durch den Verrat des Stalinismus an den sozialistischen Idealen. Das Werk ist eine düstere Parabel auf den Sozialismus stalinistischer Prägung und war eine Abrechnung des überzeugten Sozialisten mit der Machtübernahme der totalitären Bolschewisten in der Sowjetunion.


Der Roman ist in Form eines Märchens geschrieben, welche eine Anthropologie enthält: »Lebt im Einklang mit der Natur, behandelt andere so, wie auch ihr behandelt werden möchtet und denkt immer daran, daß auch Tiere haben eine Seele. «

Literatur:

Farm der Tiere
Farm der Tiere: Ein Märchen
von George Orwell

Video:

Klassiker der Weltliteratur: George Orwell - "Farm der Tiere - Youtube




Die Farm der Tiere - YouTube

Samstag, 15. August 2020

Die Entstehung von Stifters Erzählung «Bergkristall«

Adalbert Stifter: Im Gosautal. Die Holzmeisteralm mit dem Dachstein, 1834

Im Sommer 1845 reiste Adalbert Stifter ins Salzkammergut und traf in Hallstatt seinen Freund, den Geographen und Alpenforscher Friedrich Simony. Er erzählte Stifter von seinen Forschungen zum Dachsteingebiet und zeigte ihm am nächsten Tag das Bild einer Eishöhle. Diese Zeichnung animierte Stifter zu seiner Erzählung vom »Bergkristall«, der wohl bekanntesten Erzählung aus der Sammlung »Bunte Steine«: „Ich habe mir jetzt das Kinderpaar von gestern in diesen blauen Eisdom versetzt gedacht; welch‘ ein Gegensatz wäre dies liebliche, aufknospende, frisch pulsierende Menschenleben zu der grauenhaft prächtigen, starren, todeskalten Umrahmung!“ (so berichtet von Simony in einem Brief an Emil Kuh vom 19.8.1871)1.

In der Erzählung »Bergkristall«, die zur Weihnachtszeit im Hochgebirge spielt, verirren sich zwei Kinder bei heftigem Schneefall in der kargen Fels- und Eisregion des Hochgebirges. Für die Nacht finden sie Schutz in einer Höhle. Das Krachen des Gletschereises durchbricht die Lautlosigkeit der Eiswelt. Der dunkelblaue Gebirgshimmel verwandelt sich in einen Sternenhimmel, über den das Polarlicht flimmert. Der nächste Tag bringt die Rettung der beiden Kinder und die Versöhnung zweier ehemals verfeindeter Dörfer.

Stifter brilliert mit eindringlichen Beschreibungen der winterlichen Natur und einer herzerwärmenden Geschwisterliebe. Der »Bergkristall« ist eine der schönsten Erzählungen von Adalbert Stifter, in der sich beim Lesen auch ein literarischer Zauber verbreitet. Diese ergreifende Weihnachtsgeschichte ist eine phantasievolle und zeitlose Erzählung nicht nur für Kinder.

Weblinks:

Bergkristall - www.weihnachtsgeschichten.org

Adalbert Stifter-Biografie - Biografien-Portal www.die-biografien.de

Blog-Artikel:

»Bergkristall« von Adalbert Stifter - Literatenwelt-Blog Literatur:

Bergkristall
Bergkristall
von Adalbert Stifter

»Gehe hin und verkünde es vom Berge« von James Baldwin


James Baldwin



»Gehe hin und verkünde es vom Berge«, 1953 erschienen, ist der Debütroman des afroamerikanischen Schriftstellers James Baldwin. In seinem ersten Roman schildert der afroamerikanische Schriftsteller die Auseinandersetzung des vierzehnjährigen John Grimes mit seinem Stiefvater, dem Laienprediger Gabriel Grimes, der mit seiner zweiten Frau Elizabeth und drei Kindern in Harlem lebt.

In die Darstellung der persönlichen und religiösen Krise Johns an seinem vierzehnten Geburtstag, die mit seiner "Erlösung" und "Rettung" während des abendlichen Gottesdienstes in einer Evangelisten-Kirche, dem "Tempel der Feuergetauften" endet, sind zahlreiche Rückblenden eingefügt, in denen das frühere Leben der ebenfalls in der Kirche anwesenden Hauptgestalten, im Mittelpunkt vor allem das von Gabriel, Elisabeth und Florence, der älteren Schwester von Gabriel, erzählt wird. Die an diesem Abend nur mäßig versammelte religiöse Gemeinde von Harlem widmet sich ihren Gesängen, Gebeten, Anrufungen und Fürbitten und alle warten sie darauf, dass der anwesende John seinen Stolz und seine Zweifel ablegt und überwindet und sich der Gemeinde der wiedergeborenen Gläubigen anschließt.

Das Dilemma, in dem der junge John sich befindet, beruht darin, dass er in seinem Hass nicht so sein will wie sein Vater und seine Vorfahren und sich gegen seine Umgebung, die ihn zu einem Prediger wie sein Vater bestimmt hat, zur Wehr setzt. Die Welt, die John als Vermächtnis auf sich nehmen muss, ist die des Ghettos in Harlem, die Welt der Neger im Norden der USA, die sich im Roman zum einem verwirklicht in der Unmittelbarkeit des religiösen Gefühls, der Sprache de Bibel und einer Gemeinde von "Geretteten", die die zur Sühne und Bekehrung Bereiten zum Heil durchbringen, voll der musikalischen Tradition, die in Gospelsong ihren stärksten Ausdruck fand.

Gleichzeitig ist sie aber auch eine Welt der Armut, des Leidens, des Fatalismus, der zwanhghaften Selbstkasteiung, der radikalen Trennung von Körper und Seele, der Dämonisierung und Verachtung des Weltlichen und Profanen und einer anmassenden Überhöhung religiöser Werte, der niemand auf die Dauer gewachsen ist. John spürt diese Ambivalenz und die Zweifel in sich. Wenn er auf seinem Lieblingshügel im Central Park steht und auf die Stadt New York runterblickt, erinnert er sich an die Worte seiner Eltern, für die diese Stätte ein Ort der Verdammnis ist, ein Hindernis auf dem schmalen Pfad, der zur ewigen Seligkeit führt. Und doch hat John kein Verlangen nach dem schmalen Pfad, den alle seine Angehörigen wandelten: "Auf diesem schmalen Pfad, dem Weg des Kreuzes, erwarteten ihn nur Demütigungen; dort erwartete ihn eines Tages ein Haus wie das seines Vaters, eine Kirche wie die seines Vaters, und eine Arbeit wie die seines Vaters, und er würde darüber alt und grau werden unter Entbehrungen und Mühsal. Der Weg des Kreuzes hatte seinem Vater einen knurrenden Magen und seiner Mutter gebeugte Schultern eingebracht."

So bleibt auch seine "Rettung" im Schlussteil des Buches widersprüchlich. Sie ist in ihrer ganzen Macht intensiv dargestellt, das Abgleiten in die Finsternis, das Erscheinen Gottes, das Gefühl der Befreiung, die unaussprechliche Freude. Im gleichen Moment aber ist sich John des Preises, den er für diese Erlösung zu zahlen hat, bewusst, nämlich den Verlust seines individuellen Lebens. Auch stellt er enttäuscht fest, dass seine "Rettung" ihm nicht die Sprache gegeben hat, seine Mutter nun wirklich zu verstehen und sich mit seinem Vater zu versöhnen.

In dem Vater-Sohn-Konflikt wird ein zentrales Thema von Baldwin berührt, Gewalt und Männlichkeit in den familiären Strukturen. Wie Baldwin selbst, ist John ein uneheliches Kind. Dies und die Kränkung, mit seinen "Froschaugen" als hässlich zu gelten, macht ihn zu einem Außenseiter auch innerhalb der Familie. Eindringlich werden die Demütigungen und die Gefühle der Ohnmacht und Unterlegenheit in dem väterlichen Milieu beschrieben. Der Laienprediger Gabriel, der in der religiösen Gemeinde ein ehrbares und geachtetes Mitglied ist, ein Vorbild sogar, ist in seinem eigenen Heim eine gefürchtete Autoritätsperson, der seine ungehorsamen Söhne und seine Ehefrau mit Schlägen malträtiert und erzieht. Dieser Widerspruch zwischen dem Anspruch ein gottgefälliges Leben zu führen und einem Zustand des "Heils" das keine erkennbaren Früchte trägt wird John schon sehr früh bewusst und zieht auch die scharfe Kritik von Florence, der Schwester von Gabriel, herauf. Während sich John in der gottesdienstlichen Andacht am frühen Morgen in einem ekstatischen Zustand befindet, wo er zwischen Verdammnis in der ewigen Finsternis und der Rettung im göttlichen Licht ringt, erinnert er sich verschwommen daran, wie sein Vater ihm mit Prügeln drohte, weil er gesündigt hatte, da er "wie einst der verfluchte Sohn Noahs, die abstoßende Blöße seines Vaters" gesehen hat. Sein hoch stehender Vater, der "Gesalbte des Herrn", wird mit dem wachsamen Blick und dem aufmerksamen Hören des Sohnes seines weißen Gewandes entzogen und als fleischlicher, lüsterner und sündiger Mann entlarvt: "Ich hab dich gehört - die ganze Nacht lang. Ich weiß, was du schwarzer Kerl im Dunkeln machst, wenn du glaubst, der Sohn des Teufels schläft. Ich hab dich gehört, wie du gekeucht hast, gestöhnt hast und fast erstickt bist - und ich hab gesehen, wie du dich bewegt hast, auf und ab und rein und raus. Ich bin nicht umsonst der Sohn des Teufels."

In den Rückblenden wird der komplexe Zusammenhang von Gabriels Stolz und Schuld, der Konflikt von Geist und Körper noch ausführlicher erzählt: sein anrüchiges und sündiges Leben im Süden vor seiner Bekehrung, seine geschwisterähnliche, reine, unerfüllte Ehe mit Deborah, die als junges Mädchen von einer Horde von Weißen Männer vergewaltigt wurde, die keine Früchte tragen wird und seine außereheliche Affäre mit der sinnlichen, aber nicht frommen Esther, die er verstoßen wird und aus der ein unehelicher Sohn hervorgehen wird, der wiederrum ein blutiges Ende finden wird.

Für die religiöse Wandlung und Bekehrung von Gabriel hat die ältere Schwester Florence zunächst nur Spott und Unverständnis übrig. In ihrem unbändigen Verlangen nach Unabhängigkeit und ihrem unbeugsamen Gerechtigkeitssinn verlässt sie als junge Frau ihre kranke, im Bett liegende Mutter, ihren Bruder und den verhassten, rassistischen Süden und zieht nach New York, wo sie eine Ehe mit Frank, einem gewöhnlichen, farbigen Arbeiter, der zuviel trinkt und sein verdientes Geld gleich wieder ausgibt, eingeht.

Die Ehe scheitert und Frank wird im Ersten Weltkrieg als Soldat fallen. An diesem für John so wichtigem Tag in der Evangelisten-Kirche schaut auch Elisabeth auf ihr Leben zurück. Gemeinsam mit ihrem Freund Richard zieht auch sie in den Norden, voller positiver Erwartungen und Hoffnungen, aber auch ihr Stolz und ihre Zuversicht werden gebrochen und sie erkennt sehr schnell, dass es zwischen Norden und Süden keinen großen Unterschied gibt, "es gab nur einen Unterschied: der Norden versprach mehr."

Richard und Elisabeth werden mit Rassismus und den Folgen der Rassentrennung konfrontiert, Richard landet unschuldig im Gefängnis, erlebt dort Gewalt und Demütigungen, wird entlassen und schneidet sich nach dieser Schmach und Erniedrigung die Pulsadern auf. Elisabeth versäumt es, ihrem Freund zu sagen, dass sie von ihm schwanger ist (mit John) und nach Richards Selbstmord empfindet sie nur noch Wut und Hass auf diese Welt der Weißen, ihr herablassendes, diskriminierendes und gerinsschätziges Verhalten den Schwarzen gegenüber.


Diese Rückblenden lassen sehr schnell erkennen, dass in diesen individuelen Lebenswegen und Konflikten etwas Entscheidendes über das Schicksal der Schwarzen im Allgemeinen in den Vereinigten Staaten berichtet wird. Der Roman macht auch deutlich, dass die religiöse Welt und die religiöse Srache, die hier zum Ausdruck kommt für die Fabrigen in den Ghettos der amerikanischen Großstädte eine Möglichkeit der Selbsbestimmung, der Identität und Befreiung boten, die aber gleichzeitig einen Zwangscharakter aufweisen, der die Farbigen in neue Ghettos einschließt, in die religiöse Gruppe der von Gott Geretten und Erwählten.

James Baldwin hat ein unglaublich aufwühlendes, wuchtiges Werk geschaffen, einen Roman von sprachlicher Gewalt und Intensität, voll Zorn und Mitgefühl. Der Debütroman ist ein weiterer Beweiss für Baldwins lebensbejahende Einstellung, seine Weigerung Mißstände hinzunehmen und seine kämpferische Natur. Er schildert die Schwierigkeien des Individuums, seine eigene Identität aufgrund von Hautfarbe und Sexualität in Einklang zu bringen mit dem sozialen Umfeld. Er zeigt eine Welt voller Konflikte, im familiären, rassischen, sexuellen und religiösen Bereich.


Buchempfehlung:

Christus kam nur bis Eboli
Gehe hin und verkünde es vom Berge
von James Baldwin