Samstag, 20. April 2019

»Der Glöckner von Notre Dame« von Victor Hugo


Der Glöckner von Notre Dame

»Der Glöckner von Notre Dame« ist ein 1831 erschienener historischer Roman des französischen Schriftstellers Victor Hugo, der im Jahr 1482 in Paris spielt. Der deutsche Titel des Romans Der Glöckner von Notre-Dame ist somit etwas fehlgeleitet, denn der französische Originaltitel lautet allgemeiner »Notre-Dame de Paris«. Dieses Werk ist ein epochaler Roman und mehr als nur ein historischer Roman, er ist ein ganz wesentlicher Teil der literarischen Identität Frankreichs. Der Roman verdankt seine Entstehung dem drohenden Verfall der Kathdrale Notre Dame. Mit diesem Roman wollte Victor Hugo durch einen patriotischen Akt für den Erhalt von Notre-Dame de Paris einstehen.

Die römisch-katholische Kirche »Notre-Dame de Paris« (»Unsere Liebe Frau von Paris«) ist die Kathedrale des Erzbistums Paris. Die Unserer Lieben Frau, also der Gottesmutter Maria, geweihte Kirche wurde in den Jahren von 1163 bis 1345 errichtet und ist somit eines der frühesten gotischen Kirchengebäude Frankreichs. Die Kirche war im frühen 19. Jahrhundert vom Verfall bedroht. Mit diesem Roman wollte Victor Hugo für den Erhalt der Kathedrale von »Notre-Dame de Paris« einstehen und daher ist die Kathedrale auch der wichtigste Schauplatz für die Hauptfiguren im Roman.

Der Roman beinhaltet mehrere Handlungsstränge, die nach und nach ineinanderfließen und ein buntes und vielseitiges Bild des französischen Spätmittelalters mit all seinen Bevölkerungsschichten zeichnen. Die Geschichte vom missgestalteten Glöckner Quasimodo, der sich in die schöne Zigeunerin Esmeralda verliebt, ist - obgleich sie meist als interessant genug angesehen wurde, um ihn zur Haupthandlung einer Vielzahl von Verfilmungen zu machen - nur einer dieser Stränge.

Notre Dame

Der bucklige und sehr unansehnliche Quasimodo lebt seit seiner frühesten Kindheit in der Kathedrale von Notre-Dame und ist dort als Glöckner tätig. Er meidet die Außenwelt, da er sich vor dem Entsetzen der Menschen verbirgt.
Doch hinter seinem hässlichen Aussehen verbirgt sich ein gutherziger, aber naiver Charakter. Nur der Erzdiakon Claude Frollo, der sich trotz seines hässlichen Äußeren um ihn gekümmert hat, ist seine einzige Vertrauensperson.

Doch dann taucht in Paris die wunderschöne Zigeunerin Esmeralda auf und schon bald verliebt sich Frollo entgegen seines kirchlichen Gelübtes in sie. Jedoch verliebt sich Esmeralda in Phoebus, dem Hauptmann der königlichen Leibgarde, und das löst eine dramatische Kettenreaktion aus, da sich auch der hässliche, aber gutherzige Glöckner Quasimodo in die Zigeunerin verliebt.

Victor Hugo schuf ein unvergessliches Meisterwerk mit faszinierenden Charakteren und vor allem hat dieser Roman neben Dramatik auch Tiefgründigkeit. Victor Hugo gelingt es sehr realistisch, die Stadt Paris im Spätmittelalter zu beschreiben.


Alles in dem Roman »Der Glöckner von Notre-Dame« ist eine faszinierende Gegenüberstellung von Groteske und Erhabenen - der Rede, der Charaktere, der Umgebung. Man hat das Gefühl, dass der Sinn dieser anrührenden Geschichte darin bestand, aufzuzeigen, daß Architektur das einzig Gute ist, das aus dem Mittelalter kam, verbunden also mit der Bitte "Zerreißen sie dieses Gebäude um Himmels willen nicht! So etwas könnten wir nie wieder bauen!" Dieses Buch rettete tatsächlich die Kathedrale Notre Dame, indem es den Menschen einen Grund gab, sich darum zu kümmern, und zeigte, wie schön die gotische Architektur war, auch wenn sie damals anders war als heute - welches ein Thema des Romans ist, das auch für die Figuren gilt.

Victor Hugo mag Listen, die sehr, sehr lang sind und noch längere Namen enthalten, und in der ersten Hälfte des Buches ist die Handlung etwas träge, aber dann wird der Leser plötzlich von dieser dampfenden, leidenschaftlichen, actiongeladenen, grausig gewalttätigen zweiten Hälfte des Romans mit der verbotenen Liebe über den Kopf geschlagen. Ich habe das nicht kommen sehen. Es ist überraschend modern, daß in dieser Geschichte viele Elemente enthalten sind, die heutzutage in Romanen, insbesondere bei jungen Erwachsenen, recht beliebt sind.

Der 1831 erschienene historische und epochale Roman von Victor Hugo fesselt und bewegt die Literaturfans seit fast 200 Jahren und gilt als einer der ersten Großstadtromane der Weltliteratur. Der Stoff der Romanvorlage Hugos wurde schon mehrmals filmisch adaptiert, wenn auch nicht ganz getreu der literarischen Vorlage.

Die bekanntesten Verfilmungen sind zweifellos die von 1923 mit Lon Chaney sen. als Quasimodo, von 1939 (mit Charles Laughton als Quasimodo), von 1956 mit Anthony Quinn als Quasimodo und ist 1996 sogar als Disney-Zeichentrickfilm adaptiert worden.

Inzwischen gibt es mehrere Ausgaben, ja sogar stark gekürzte und vereinfachte Kinder- und Jugendbuchfassungen, aber es geht nichts über eine vollständige Ausgabe, wenn man bisher nur die filmischen Umsetzungen gesehen hat.

Literatur:

Der Glöckner von Notre Dame
Der Glöckner von Notre Dame
von Victor Hugo


Blog-Artikel:

Die Kathedrale Notre Dame von Paris - Kulturwelt-Blog

Dienstag, 16. April 2019

Anatole France 175. Geburtstag

Anatole France

Anatole France wurde vor 175 Jahren am 16. April 1844 in Paris geboren. Anatole France war ein französischer Schriftsteller.

Als Autor begann er mit Lyrik im Stil der Dichter des Parnasse, in deren Kreis um Charles Leconte de Lisle er sich ab 1867 bewegte. Er betätigte sich aber früh auch als Erzähler sowie als Literaturkritiker, welcher zum Beispiel den neuen Symbolismus etwa Mallarmés oder Verlaines zunächst nicht goutierte.

Sein Durchbruch war 1881 der Roman »Le Crime de Sylvestre Bonnard, membre de l'Institut« (»Das Verbrechen Sylvestre Bonnards, Mitglied des Instituts«), der mit dem »Prix de l'Académie française« ausgezeichnet wurde, ihm Zugang zu den Pariser literarischen Salons verschaffte, u.a. dem von Mme de Caillavet, und ihm 1884 das »Kreuz der Ehrenlegion« eintrug.

1895 wurde France in seiner Eigenschaft als gemäßigt progressistischer Autor zum Offizier der Ehrenlegion befördert. Am 23. Januar 1896 wurde der vielseitige Literat und glänzende Stilist als Nachfolger des verstorbenen Ferdinand de Lesseps in die Académie française aufgenommen.

Am berühmtesten wurden die Romane »Die Insel der Pinguine« (»L'Île des Pingouins«), »Die Götter dürsten« (»Les dieux ont soif«) und »Die Rote Lilie (»Le Lys Rouge«).

Ersterer ist ein sarkastischer Abriss der französischen Geschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart, verkleidet dargestellt als die Geschichte eines fiktiven Pinguin-Reichs, wobei der Autor dessen Zukunft aufgrund der Habgier und hochmütigen Uneinsichtigkeit der „Pinguine“ sehr pessimistisch beurteilt.

Der andere Roman erzählt die Geschichte eines doktrinären Revolutionärs und dessen Mitwirkens an der blutrünstigen Schreckensherrschaft von 1793/94. Es ist ein Aufruf gegen den ideologischen und politischen Fanatismus, der das Frankreich der Zeit polarisierte.

1921 erhielt er den Literaturnobelpreis. Von heutigen Lesern wird Anatole France vor allem als Romancier und Autor von »Die Insel der Pinguine« (»L'Île des Pingouins«), »Die Götter dürsten« (»Les dieux ont soif«) und »Die Rote Lilie (»Le Lys Rouge«) wertgeschätzt.

Zu seinem 80. Geburtstag 1924 wurde France mit Ehrungen überhäuft und bei seinem Tod noch im selben Jahr mit einem Staatsbegräbnis in Paris ausgezeichnet.

Anatole France starb am 12. Oktober 1924 in Saint-Cyr-sur-Loire.

Literatur:

Insel der Pinguine
Insel der Pinguine
von Anatole France

Samstag, 13. April 2019

»Verlorener Morgen« von Gabriela Adameşteanu


»Verlorener Morgen« von Gabriela Adameşteanu - in der Übersetzung von Eva Ruth Wemme - ist die rumänische Suche nach der verlorenen Zeit. Die große Kunst des europäischen Erzählens im 20. Jahrhundert. Ein Klassiker, erstmals aus dem Rumänischen ins Deutsche übertragen.

Der Roman gewährt einen tiefen Einblick in die Gesellschaft und das Leben hinter dem Eisernen Vorhang in Rumänien im 19. Jahrhundert.

»Der verlorene Morgen« umfasst bewegte Zeiten. Seine Handlung deckt das gesamte »kurze« 20. Jahrhundert ab. Seine Stimmen tragen durch die Jahrzehnte: Es entsteht eine panoramatische Geschichte eines ganzen Landes, gespiegelt in den Erlebnissen von Menschen aus allen Gesellschaftsschichten.
Die mehrmals gebrochenen Biografien der Protagonisten treffen in diesem Roman aufeinander und dabei ist ein einziger Tag in Vicas Leben die Klammer, die alles zusammenhält. Ein Leben zwischen dem Ersten Weltkrieg, dem Terror in den 1950er Jahren und den tristen 1980er Jahren in Rumänien zieht in diesem Roman vorüber bevor das Buch im Jahr 1980 endet.

»Der verlorene Morgen« ist ein Roman der Frauen und ein Roman des Alterns, in dem das Glück der Vergangenheit von Anfang an unter dem Unstern des persönlichen Scheiterns und der kollektiven Katastrophe des Krieges steht und an keinem Punkt ins Sentimentale oder Nostalgische abgleitet; vor allem aber ein Roman, der vom Leben und seinem Vergehen handelt. Das Kaleidoskop seiner unvergesslichen Figuren, Stimmen und Geschichten erzeugt eine den Leser mitreißende Melancholie.

Von der Gossensprache über die Rhetorik der Staatspropaganda bis zu den Resten einer vergangenen Bildungsbürgerlichkeit, von Bewusstseinsströmen bis zu brillanten Dialogen zieht »Der verlorene Morgen« alle Sprachregister.

Als der Roman »Verlorener Morgen« zur Jahreswende 1983/84 in Rumänien erschien, wurde er schnell ein literarisches Ereignis. Wenn der Roman in dem letzten Drittel mit den Stimmen Vicas und Ivonas die Schicksale der Familienmitglieder und ihres Umfelds durch die politische Geschichte hindurch kaleidoskopisch zu Ende erzählt, erzeugt es einen melancholischen Sog, an den man sich auch nach beendeter Lektüre noch lange erinnert.

Ihr 1983 erschienener Roman »Verlorener Morgen« packt Rumäniens zerfahrene Geschichte im 20. Jahrhundert in einen einzigen Tag – ein grosser erzählerischer Wurf. Schon kompositorisch ist der Roman ein Meisterwerk.

Literatur:

Verlorener Morgen
Verlorener Morgen
von Gabriela Adameşteanu

Mittwoch, 10. April 2019

Claudio Magris 80. Geburtstag

Claudio Magris

Claudio Magris wurde vor 80 Jahren am 10. April 1939 in Triest geboren. agis ist ein italienischer Schriftsteller, Germanist und Übersetzer. Von 1978 bis zu seiner Emeritierung 2006 war er Professor für moderne deutschsprachige Literatur an der Universität Triest.

Claudio Magris studierte an den Universitäten Turin und Freiburg im Breisgau Germanistik. Er ist Essayist und Kolumnist für die italienische Tageszeitung Corriere della Sera und andere europäische Zeitungen. Durch seine zahlreichen Studien zur mitteleuropäischen Kultur gilt er als deren größter Förderer in Italien.

Claudio Magris lebt in Triest und spricht seinen fast als eigene Sprache bezeichneten Triestiner Dialekt. Das bekannte Retro-Kaffeehaus Caffè San Marco dort, eröffnet am 3. Januar 1914 vom Istrianer Marco Lovrinovich mit seiner erhaltenen, der Republik Venedig verbundenen Atmosphäre, gilt als sein Wohn- und Arbeitszimmer. Und auf seinem dortigen Stammtisch verfasst er seine zahlreichen, auch vom bunten Publikum der Triestiner Kaffeehäuser beeinflussten Essays und Romane.

Magris veröffentlichte als Triestiner Jung-Germanist mit 24 Jahren seine auf Italienisch geschriebene Doktorarbeit (auf Deutsch 1966: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur). Diese enthält die bis heute wichtigste und einflussreichste Theorie, die bislang zur österreichischen Literatur entwickelt wurde.

Diese handelt vom habsburgischen Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Den „habsburgischen Mythos“ konstituieren nach Magris grundsätzlich drei Elemente: Als ersten Teil sieht er die religiös aufgeladene Vorstellung eines im Zeichen einer höheren Idee gegründeten Reiches mit der Überlebenstaktik des defensiven Hinausschiebens und Sichtotlaufenlassens des Konfliktes („Das Fortwursteln, um einen Vielvölkerstaat zusammenzuhalten“).

Literatur:

Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur
Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur
von Claudio Magris

Samstag, 6. April 2019

Milan Kundera - ein französischer Tscheche


Milan Kundera

„Das Leben ist anderswo“ – diese Devise des französischen Dichters Arthur Rimbauds hat den am 1. April 1929 in Brünn geborenen Milan Kundera früh geprägt, wobei dieses Anderswo in seieen Werken jeweils eine andere literarische Gestalt verliehen bekam.

Nach einem Literaturstudium in Prag begann er selbst, zu schreiben: Gedichte, Dramen, Essays, Romane, auch, um die unbekannten Seiten seiner eigenen Existenz auszukundschaften. Kindheit, Heimat, Liebe, Erwachsenwerden, Sexualität, revolutionäre Begeisterung für Ideen vom Fortschritt – das sind bis heute Kunderas Themen in Romanen.

Als Tscheche, der laut Paß keiner mehr ist, lebt Kundera seit Jahrzehnten in Frankreich. Die damalige Tschechoslowakei hatte ihm 1978 die Staatsbürgerschaft entzogen - und so einen der bekanntesten Schriftsteller des Landes zum Exilanten gemacht.

Er ist einer der bedeutendsten tschechischen Schriftsteller der Nachkriegszeit - aber Tscheche ist Milan Kundera seit 1979 nicht mehr. Die damalige Tschechoslowakei hatte ihm 1978 die Staatsbürgerschaft entzogen - und so einen der bekanntesten Schriftsteller des Landes zum Exilanten gemacht.

Milan Kundera

Die Tschechoslowakei hatte dem vier Jahre zuvor nach Paris emigrierten Dichter die Staatsbürgerschaft entzogen, weil er den Prager Frühling unterstützt und sich zudem nicht an das poetische Regelwerk des real existierenden Sozialismus gehalten hatte.

1975 erhielt er einen Ruf als Dozent an die Universität Rennes und emigrierte daraufhin mit seiner Ehefrau nach Frankreich.

Auchim Exil trieb Kundera seine literarischen Themen voran und auch weiter vor tschechoslowakischerKulisse. Nach seiner Emigration nach Frankreich veröffentlichte Kundera zunächst Bücher weiter in tschechischer Sprache, später dann in französischer Sprache. Es folgte die Annäherung an die französische Kultur und die poetische Kraft der französischen Sprache.

Seit 1981 besitzt Kundera die französische Staatsbürgerschaft, der Mann aus Brünn und exilierte Tscheche ist Franzose, gehadert hat er mit dieser Entwicklung nie. Er hat sich in Paris nie fremd gefühlt und er reagierte stets mit Unverständnis, wenn ihn jemand wegen seines Schicksals bedauerte. Als ihm der Literaturkritiker Fritz Raddatz 1984 in einem Interview in der Zeit einmal Heimweh unterstellte, antwortete er:

"Ich habe mein Prag mitgenommen, den Geruch, den Geschmack, die Sprache, die Landschaft, die Kultur." Und er fügte ein für alle Mal hinzu: "Es gibt diesen Traum von der Rückkehr nicht."


Weblinks:

Milan Kundera-Biografie - Biografien-Portal www.die-biografien.de

Milan Kundera-Zitate - Zitate-Portal www.die-zitate.de

Ein französischer Tscheche: Milan Kundera wird 90 - www.dw.com


Blog-Artikel:

Milan Kundera - Suche

»Der Scherz« von Milan Kundera

Literatur:

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
von Milan Kundera

Der Scherz
Der Scherz
von Milan Kundera

Die Kunst des Romans
Die Kunst des Romans
von Milan Kundera

Donnerstag, 28. März 2019

»Die Bezirksstadt« von Karel Poláček


Die Bezirksstadt

»Die Bezirksstadt« ist ein 1936 erschienener Roman von Karel Poláček. Ein liebevoll-satirischer Roman aus dem Böhmen der kuk-Zeit, humorvoll und sprachlich elegant erzählt, mit einem Schuss Absurdität. Antonín Brousek, der Übersetzer des »Švejk«, hat diesen Roman aus dem Jahr 1936, dessen Autor in Tschechien so bekannt ist wie Hašek, Hrabal oder Kundera. Dieser Roman - kongenial neu übersetzt - ist eine Entdeckung für deutsche Leser.

Der Roman spielt am Vorabend des Ersten Weltkrieges in einer Kleinstadt irgendwo in Böhmen. Die Moderne hat auch in der Provinz schon Einzug gehalten mit Filmvorführungen, den ersten Automobilen und sogar Flugzeugen. Der junge, geckenhafte Kaufmannssohn Kamil, der schon mal die Luft der Großstadt geschnuppert hat, kann sich gar nicht genug tun, die Moderne gegen diese altmodische Provinz auszuspielen. Denn hier geht noch alles seinen gewohnten Gang:

Da waschen die Wäscherinnen noch am Fluss, da sitzen die Männer im Kaffeehaus, da promenieren die Honoratioren und die Töchter der Handwerker und dazwischen die Juden, da kommen mal Komödianten und mal Soldaten, mal feiert man den Abgeordneten, mal brennt das Freudenhaus ab – viel mehr passiert nicht. »Sie schläft, die Bezirksstadt« – bis die Nachricht von der Ermordung des Thronfolgers in Sarajewo eintrifft: Dann konnte man hören, wie jemand in der Stadt ein Fenster zuschlug.«

»Die Bezirksstadt« ist sicherlich eines der besten Bücher über diesen einmaligen Zeitraum zwischen 1900 bis 1914 und braucht sich dabei auch nicht vor dem Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« von Musil zu verstecken, in der die Wucht es neuen und der Glanz des Alten seltsam anachronistisch nebeneinander existierten. Der Roman ist eine gelungene, doppelbödige menschliche Komödie.

So eben auch in dieser kleine Stadt in Böhmen, wo die verschiedensten Menschentypen unterwegs sind; alles ist ländlich, dabei aber auch bürgerlich, verschlafen, aber geschäftig. In dieser Stadt lebt auch der Kaufmann Stedry. Er hat drei Söhne Jaroslav, Kamil und Viktor, die ihm manchen Kummer mit ihren Entscheidungen bereiten. In der Stadt hält die Moderne Einzug, mit der die BewohnerInnen gleichsam fremdeln und liebäugeln. …

Karel Poláček war kein großer Philosoph und auch kein epischer Geschichtenerzähler. Dafür ist er ein Autor mit bemerkenswertem Sinn für subtilen Humor und das schnelle Entwerfen von belebten, authentischen Charakteren. Das erste Talent macht »Die Bezirksstadt« zu einer unterhaltsamen Lektüre, letzteres macht das Buch zu einem bedeutsamen Roman über den Vorabend der „Urkatastrophe“ des 21. Jahrhunderts. Diese Stadt in Böhmen mit ihrer Beschaulichkeit, der auch die ankommende Moderne nichts anhaben kann, ist fast schon ein Sinnbild für Österreich-Ungarn als Ganzes im Jahre 1914: ein auf den neu aufgestellten Pulverfässern sitzender Gewohnheitsraucher.

Selbst in der Übersetzung erkennt man die hohe Sprachkunst des Autors; die Einflüsse von Hasek (mit dem der Autor persönlich bekannt war), Turgenjew, Tolstoi und Tschechow sind erkennbar). Die Menschen reden im Roman viel, sagen aber im Grunde immer dasselbe.

»Die Bezirksstadt« ist sicher einer der besten tschechischen Romane des 20. Jahrhunderts und man wünscht dem Buch in dieser kongenialen Übersetzung viele Leser.


Literatur:

Die Bezirksstadt
Die Bezirksstadt
von Karel Poláček

Samstag, 23. März 2019

»Winterbergs letzte Reise« von Jaroslav Rudiš



»Winterbergs letzte Reise« ist der aktuelle Roman von Jaroslav Rudiš, der eine geheimnisvolle Geschichte über zwei Menschen erzählt, welche die Vergangenheit zusammenbringt und auf eine letzte gemeinsame Reise auf der Suche nach der verlorenen Liebeschickt. Jaroslav Rudiš, geboren 1972, ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Dramatiker und Musiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist.

Jan Kraus arbeitet als Altenpfleger in Berlin. Geboren ist er in Vimperk, dem früheren Winterberg, im Böhmerwald. Seit 1986 lebt er in Deutschland. Unter welchen Umständen er die Tschechoslowakei verlassen hat, das bleibt sein Geheimnis. Und sein Trauma.

Kraus begleitet Schwerkranke in den letzten Tagen ihres Lebens. Die Tage, Wochen, Monate, die er mit seinen Patienten verbringt, nennt er „Überfahrt“. Einer von denen, die er auf der Überfahrt begleiten soll, ist Wenzel Winterberg, geboren 1918 in Liberec, Reichenberg. Als Sudetendeutscher wurde er nach dem Krieg aus der Tschechoslowakei vertrieben. Als Kraus ihn kennenlernt, liegt er bereits gelähmt und abwesend im Bett.

Es sind Kraus' Erzählungen aus seiner Heimat Vimperk, die Winterberg aufwecken und ins Leben zurückholen. Doch Winterberg will mehr von Kraus, er will mit ihm eine letzte Reise antreten, auf der Suche nach seiner verlorenen Liebe – eine Reise, die die beiden durch die Geschichte Mitteleuropas führt. Von Berlin nach Sarajevo über Reichenberg, Prag, Wien und Budapest. Denn nicht nur Kraus, auch Winterberg verbirgt ein Geheimnis.

Der Roman erzählend von einer Reise - einem Road trip - ist eine mitreißende, melancholische und hochkomische Road novel.

Literatur:


Winterbergs letzte Reise
von Jaroslav Rudiš